Die Individualsystemik von Artho und Veeta Wittemann -
ein schlüssiges und tiefgründiges System der menschlichen Psyche in Theorie und Praxis
Wir lassen niemals vom Entdecken
Und am Ende allen Entdeckens
Langen wir, wo wir losliefen, an
Und kennen den Ort zum ersten Mal.
T.S. Eliot The Four Quartetts
„Manchmal braucht es jemanden von außen, um die blinden Flecken freizulegen, die innerhalb eines sozialen Gebildes das Sehen behindern“i. Diese Flecken zu entdecken, zu beschreiben, ist eine Sache. Die nächste entscheidende Frage lautet dann, ob das soziale Gebilde die blinden Flecken überhaupt sehen und beheben will. Gut 100 Jahre nach den Pionieren Freud, Adler und Jung existieren auf dem psychologischen Markt unzählige Methoden innerhalb und außerhalb zugelassener Therapieverfahren, um die komplexe Welt der menschlichen Psyche zu erforschen und zu erklären. Den Außenseitern Artho und Veeta Wittemann ist meiner Ansicht nach mit der Individualsystemik ein ganz besonderer Zugang zur menschlichen Seele gelungen, der, wenn er von den Institutionen entsprechend wahrgenommen und gewürdigt würde, eine Revolution innerhalb und außerhalb der Psychologie auslösen könnte.
Revolution bedeutet vom lateinischen Wortursprung her Umwälzung. Das Verb revolvere zurückrollen. So eine Rück-Entwicklung, mit Blick auf Essenzielles, das wir beim Fortschreiten während unserer menschlichen „Entwicklung“ verloren haben, beinhaltet auch ein beherztes Zugehen gegen jeden inneren und äußeren Widerstand, um sich jenes Wertvolle zurückzuerobern, das uns Menschen von einem authentischen, guten Leben im Sinne eines „zurück in die Zukunft“ trennt. Dass dies bis jetzt nicht passiert ist, beweist zumindest die Richtigkeit der Wahrnehmungspsychologie: Wir nehmen nur das wahr, was wir wahrnehmen wollen, das, was unser grundlegendes System bei allen Frustrationen und Unzulänglichkeiten nicht zu sehr in Frage stellt. Denn setzten wir uns wirklich in Bewegung, ließen wir dabei die damit verbundenen Unsicherheiten und Erschütterungen zu – auf welches Selbstbild, welche bisherigen Traditionen könnten wir dann noch bauen? Welche verlässlichen Netze gäbe es wirklich, durch die wir durchgehende Stabilität, Abgrenzung, Selbstwert und vor allem auch Ansehen und Reputation genießen?
Die Erkenntnis „Wir sind Viele“ ist nicht neu – was macht die Individualsystemik trotzdem so einzigartig?
Dass die Welt grundsätzlich eine höchst konflikthafte ist, auf die wir in unterschiedlichster Weise reagieren, erkannten und thematisierten schon die alten Griechen. In ihren Theaterstücken war die persona die Maske, hinter der göttliche bis tierische Anteile im Menschen versuchten, sich Geltung zu verschaffen. Während vorchristliche Religionen dem Menschen im Spiegel der vielen Götter viele Seiten zuerkannten, verengte die christliche Sicht die menschliche Persönlichkeit: Der Mensch befindet sich in der Zwickmühle zwischen teuflischen und himmlischen Sphären, ein grausames Entweder-Oder, aus dem es kein Entrinnen gibt, es sei denn, der Mensch spaltet seine vitalen Anteile ab und/oder das männliche Über-Ich „Gott“, im besten Fall gnädig umgestimmt durch Marias Fürbitte, erbarmt sich des armen Sünders. Im Zuge der erstarkenden Wissenschaften Ende des 19. Jahrhunderts machte sich der Wiener Arzt Sigmund Freud damit bekannt, die Folgen dieser unerträglichen Tatbestände aus säkularer Sicht zu artikulieren: Wir sind weit weniger Herr im eigenen Haus, als wir glauben. Das brüchige Ich wird von den gesellschaftlich-religiösen Normen des Über-Ich von der einen Seite und von den dunklen, wilden Impulsen des Es auf der anderen Seite bedrängt.
Bei allen Unterschieden und Entwicklungen lässt sich eine Gemeinsamkeit zwischen dem Pionier Freud und heutiger Psychologie festhalten: Wir haben in hinreichend funktionstüchtigem Zustand ein in der Selbst-und Fremdwahrnehmung klar abgegrenztes, individuelles Ich, dieses wird jedoch von vielen Impulsen gesteuert, die wir bei genauerem Hinsehen oft nicht klar begründen und zuordnen können und denen wir im Fall von Krankheit unterliegen.
Die Psychologie der Inneren Personen geht noch einen Schritt weiter, indem sie postuliert, dass diese Impulse selbständige innere Personen sind, mit denen man in Kontakt treten kann.
Vier wichtige Schulen haben sich mittlerweile innerhalb der Psychologie der Inneren Personen etabliert: Das Innere Team von Schulz von Thun, die internal family systems, die voice dialogue Methode und die Individualsystemik von Artho und Veeta Wittemann.
Artho Wittemann war zunächst Schüler und dann Mitarbeiter bei Dr. Sidra Stone und Dr. Hal, den Begründern der voice dialogue Methode in den USA. Angeregt durch langjährige persönliche Erfahrungen und zahlreichen offen gebliebenen Fragen machte er sich zusammen mit seiner Frau Veeta vor über 20 Jahren auf die Suche nach eigenen Antworten, die beide auch in Büchern und Artikeln iiveröffentlicht haben. In seinem Buch „Warum wir erst anfangen uns selbst zu verstehen“, erschienen auch auf Englisch, setzt sich Artho Wittemann ebenfalls gründlich mit den Theorien Freuds, Jungs und anderer Schulen auseinander.
„Ausgangspunkt unserer Forschung waren zwei Annahmen: Es gibt Teile in uns und man kann mit ihnen reden“, so Veeta Wittemann.
Ich stieß vor Jahren zufällig auf die Individualsystemik, als ich in einer Münchner Bibliothek das vom Kösel Verlag herausgegebene Buch „Die Intelligenz der Psyche“ von Artho Wittemann entdeckte. Neugierig geworden, gelang es mir, bei Veeta Wittemann eine Einzelsitzung zu bekommen, die mich nachhaltig beeindruckte. Wer die Methode „beherrscht“, gelangt gleichsam mühelos unter die bewusste Oberfläche der Person in direkten Kontakt mit der „Türsteher-Persönlichkeit“, also demjenigen inneren Anteil, der an der Oberfläche das gesamte seelische System einer Person bewacht. Die therapeutische Kunst besteht darin, diesen „offensichtlichen“ energetischen Faden an der Oberfläche zu erkennen, aufzugreifen und mit umfassender Spiegelung (Gleich-zu Gleich) zu intensivieren. Dabei findet nach einer oder mehreren Sitzungen eine Vertiefung statt. Fühlt sich die IP an der Oberfläche ausreichend gewürdigt und erkannt, tritt der weitere Sesam-öffne-dich-Effekt ein und diese Innere Person zeigt sich auf der nächst tieferen Stufe. Ohne Hypnose, ohne Trance, Absicht und Manipulation.
Was bedeutet Gleich zu Gleich?
Lebendige Erfahrungen in einem Workshop mit Artho und Veeta Wittemann
Meine nächste persönliche Begegnung mit der Individualsystemik fand Jahre später im Februar diesen Jahres in Berlin statt. Veeta und Artho Wittemann halten hier zum wiederholten Mal Wochendseminare ab.
Jeder Teilnehmer formuliert zu Beginn sein Anliegen und beschreibt kurz, inwiefern er/sie schon Erfahrungen mit dieser Methode hat. Es ist meist eine Mischung aus Teilnehmern mit einiger Erfahrung und anderen, die Neueinsteiger sind. Einige beabsichtigen, in ihren heilkundlichen Berufen diese Methode zu integrieren. Fester Bestandteil der Seminare sind Demonstrationen der Methode, die auch für diejenigen, die „nur“ Zuschauer sind, ein spannendes Ereignis darstellen.
Bei therapeutischen Sitzungen zwischen einzelnen Teilnehmern und Artho oder Veeta sehen wir, wie schnell und unmerklich durch die gleichsam magische Spiegelung die ausgewählten Einzelkandidaten ihre Persönlichkeit leicht verändern und ihrem inneren Anteil instinktsicher einen eigenen Platz zuweisen. Dementsprechend wird der Stuhl verschoben, der Teilnehmer setzt sich um und ein eindrucksvoller Dialog zwischen Klient und Therapeut entspannt sich, der mit einer höflichen Verabschiedung und Rückkehr auf den alten Platz beendet wird. Der Teilnehmer ist ohne harten Übergang wieder die „normale“ Person, auch wenn meist Emotionen oder in der folgenden Nacht bedeutsame Träume hochsteigen. Die Reife des Therapeutenpaars trägt dazu bei, dass die Teilnehmer ihre Eindrücke und Träume von sich aus gern erzählen, ohne Angst zu haben, sich vor der Gruppe auf unangenehme Weise zu entblößen. Parallel zu den Deutungen gehen Artho und Veeta auf Feedbacks und Beobachtungen der Zuschauer ein, kommentieren sie und beziehen sie auf die vor kurzem sichtbar gewordene Innere Person.
Auf dem Workshop bekommen wir Anleitungen, wie man die Technik, in Kontakt mit Inneren Personen zu treten, trainieren kann. Denn jede innere Person hat eine Vielzahl von spezifischen Eigenschaften und Äußerungsformen, anhand derer sie zu erspüren und nach und nach zu „erkennen“ ist.
Zu zweit gegenübersitzend machen wir uns spielerisch mit den Qualitäten von Sein und Tun, mit diversen Energieformen von zurückgezogen bis ausgedehnt, persönlich-unpersönlich in zustimmenden und ablehnenden Varianten vertraut. Es sind erste, simple spielerische Fingerübungen, die im Zusammenhang mit den erlebten Settings erahnen lassen, dass der Weg zur eventuellen Meisterschaft ein sehr, sehr langer ist. Regelmäßige Tanzeinheiten tragen dazu bei, die Energie der Gruppe in spielerischem Fluss zu halten.
Was macht diese von Artho und Veeta Wittemann gefundene und entwickelte Methode „Gleich-zu-Gleich“ so schwer? Es ist keine simple äußere Imitation der Person. Sie greift in subtiler Bezogenheit alle fünf oder doch möglichst viele Wahrnehmungskanäle der Inneren Personen auf, die sich energetisch, stimmlich, emotional, gestisch-mimisch und auch symbolisch äußern können.
„Um das aktuelle Mikroprofil eines Klienten zu erstellen, muss man die fünf Kommunikationsebenen seines Gegenübers gleichzeitig im Blick behalten, ihre subtilen Nuancen aufgreifen und dann aus eigener Initiative erweitern und vertiefen. Es erinnert an das Joglieren mit fünf Bällen: Wer dabei innehält und nachdenkt, verliert sie.“iii
Da die IPs ohnehin die Eigenschaft haben sich tarnen zu wollen, ganz im Sinne Heraklits „Das Wesen der Dinge versteckt sich gern“, muss der Therapeut permanent am energetischen Faden bleiben, damit der Prozess am Laufen bleibt und sich ab einem gewissen Punkt, der nicht planbar ist, vertieft. Regie führt letztlich das psychische System eines jeden Klienten. Vorschnelle intellektuelle Zuordnungen gilt es zu vermeiden, weil dadurch die Landkarte ins Innere Labyrinth ggf. nicht stimmt und Therapeut und Klient wie die irre gegangenen Ritter der Artusrunde im Dickicht stecken bleiben. Das durch die Erfahrung gewonnene Wissen, aus welcher Quelle der Wille der Inneren Person stammt, ist die Voraussetzung, das eigene psychische System nach und nach kennenzulernen und damit wahre Selbst-Erkenntnis zu gewinnen. Und erst dann, nach dieser reflexiven Erkenntnis, wird der Mensch fähig, im Sinne von Moshe Feldenkrais zu handeln „Erst wenn du weißt, was du tust, kannst du tun, was du willst.“
Weitere frustrierende Übungseinblicke gibt Veeta, indem sie sich in eine eigene Innere Person verwandelt. Wir Teilnehmer sollen dann versuchen, mit dieser IP in Kontakt zu treten. Meist prallen wir erfolglos ab und merken dabei, wie eingeschränkt unsere Wahrnehmung ist. Bzw. unsere Kultur, die einseitig-äußerlich die bewusst-kognitive Brille schult.
Ad fontes – der dornenreiche Weg zurück zum freudvollen menschlichen Ursprung
Dass sich trotzdem der energetische und materielle Einsatz dieser seelischen Arbeit lohnen könnte, demonstriert Artho am Einführungsvortrag am Freitag abend. Seine Fallgeschichte, die im Zeitraffer wie ein Krimi klingt, erzählt von Anna, einer modernen, eigentlich zufriedenen und erfolgreichen jungen Frau, die zu ihm in die Praxis kommt. Was erst mal wie eine gelungene Brigitte Biografie klingt – erfüllender Beruf und Partnerschaft mit Kind – zeigt bei genauerer Nachfrage, warum sie überhaupt komme, erste Risse. Kompetent, wie sie ist, hat sie schon durch eigene Lektüre zwei Innere Personen herausgefunden. Eigentlich sei sie eine überaus aktive Frau mit vielen Kontakten, sie kenne aber immer bei Konflikten Phasen von Mattigkeit.
Arthos Kontaktaufnahme mit Annas Türsteher-Persönlichkeit zeigt eine bienenfleißige Arbeiterin, die zuvorkommend allen zu Diensten ist. Weil sie im Umgang mit ihrer Umgebung gelernt und verinnerlicht hat: „Sei nett, fleißig, zuvorkommend, so gehst du erfolgreich der Nicht-Akzeptanz oder Konflikten aus dem Weg.“ Es zeigt sich bald, dass die von ihr geschilderte Apathie energetisch mit dem Bienenfleiß in Verbindung steht. Statt jetzt mit der Klientin über Strategien zu sprechen, wie sie der Apathie vorbeugen kann, wird in weiteren Sitzungen ohne jedes Ziel jene Mattigkeit mit und ohne Worte gespiegelt, mit der die Psyche auch immer etwas tarnen will.
Und siehe da – einige Sitzungen weiter kündigt sich die nächste innere Person Annas an, die unter der Apathie verborgen ist: eine frustrierte Patt-Energie, die sich im Bild zweier ineinander verkeilter Käfer zeigt, mündend in eine angriffslustige Energie in Form zweier Böcke. In weiteren Sitzungen wechseln sich alle bisherigen inneren Personen ab. Nachdem die Biene, der getarnte Frosch als Symbol für den apathischen Nebel, die Käfer und die angriffslustigen Böckchen ausreichend zum Zuge kamen, taucht schließlich der Boden aller bisherigen erfassten Schichten auf: zwei spielende, aufeinander bezogene, fröhliche Delfine.
Im Nachhinein ergab sich für diese eine innere Person Annas hin zu ihrer Quelle folgender Aufbau: Ursprünglich verkörperten diese Delfine die Verspieltheit und Lebensfreude der kleinen Anna. Wird diese Energie in der Kindheit vom Umfeld nicht dementsprechend unterstützt und genährt, verkümmert diese Energie und verwandelt sich zwecks Anpassung in den kämpferischen Trotz der Böckchen, anschließend – weil auch der Trotz nichts nützte - in die frustrierte Energie der Käfer, die sich wiederum verwandelt in den apathischen Frosch, der, um nicht unangenehm aufzufallen, sich als Bienenfleiß an der Oberfläche manifestiert. Alle Metamorphosen dieser einen Inneren Person dienen letztlich dem Selbstschutz, einer kreativen lösungsorientierten Anpassung an die Forderungen der Umwelt, ohne die wir nicht überleben können. Aber indem sich diese Teile schützen, tarnen und verwandeln, kommen sie sich auch selbst abhanden und können sich ohne entsprechende Unterstützung = gekonnte therapeutische Resonanz von außen nicht zurückverwandeln!
Es ist eigentlich wie im Märchen. Wir sind alle verwandelt und um unsere ursprüngliche Energie in aller Schönheit und Kraft wiederzuerlangen, bedarf es des Durchhaltevermögens des Klienten und des Therapeuten, beide verbunden im Nicht-Wissen, wohin der Weg führt und wie lange er dauert.
Nach den Erfahrungen von Artho und Veeta Wittemann hat jeder von uns eine Anzahl von 10 bis 15 inneren Personen, die den inneren fünf Hauptquellen Frau – Mann – Kind – Gott und Tier zuzuordnen sind. „Die Inneren Personen sind die Grundeinheiten, mit denen sich die Psyche selbst organisiert. Sie bilden zusammen ein lebendiges, sich selbst regulierendes System. Dies ist die Grundannahme der Quellentheorie. Die zweite Annahme lautet: Jede innere Person hat eine eigene ursprüngliche Natur. Wir können sie die Essenzhaltung nennen. Aus ihr entspringen ihre Erwartungen an die Welt. Aus ihr entspriingen auch ihre Geschenke an die Welt. Beides bedeutet Beziehung mit der Welt. Es bedeutet nehmen und geben. Weil sie etwas nehmen will und weil sie etwas geben will, ist jede innere Person verletzlich und angreifbar.“iv
Selten hat die Innere Person an der Oberfläche noch Kontakt zur eigentlichen Quelle. Die verschiedenen Schichten zwischen Oberfläche und Boden sind Reaktionshaltungen, die sich zwar sicher, aber verzerrt auf die Welt beziehen. Diese Reaktionshaltungen werden aufgegeben, sobald die Essenz, die eigentliche Quelle, wiederentdeckt wird. Die Spaltung hat dann ein Ende, alle zusammen gehörenden Schichten schwingen dann in einer neuen freien Form, die dem Leben gegenüber einen neuen freieren Spiel- und Erlebensraum ermöglicht. Nach Erfahrung von Veeta und Artho Wittemann gibt es kein Zentrum, das die verschiedenen Anteile koordiniert. Es gibt jedoch zahlreiche Verbindungen zwischen den Inneren Personen, auch kontinentsübergreifend. Ein machtvoller, strenger oder aggressiver Anteil schützt meistens einen kindlichen, verletzlichen Anteil.
Das klingt jetzt erst mal vielversprechend: Erlösung und Befreiung unserer frustrierten und eingeschränkten Anteile, zumindest für diejenigen, die dieser Methode eine Weile folgen?
Die Antwort lautet Jein!
Bei fortschreitendem Prozess stößt man nämlich meist früher oder später auf die sogenannte unsichtbare Mauer. Nichts geht mehr, nichts passiert mehr. Hier ist sehr viel Geduld gefragt, von Seiten der Therapeuten sowie von Seiten der Klienten. Weshalb bis jetzt nur wenige Klienten diese Phase hinter sich gebracht haben. Sie gleicht einer langen erschöpfenden Burgbelagerung, bei der unsicher ist, wer sich wem ergeben wird. Hinter dieser Wand verbergen sich geheime Machtseiten, Persönlichkeitsanteile, die nicht erkannt werden wollen, die sich schon lange vom Leben verabschiedet haben. Sie haben sozusagen die Schnauze voll. Sie verkörpern in uns das kollektive Unbewusste in seiner negativsten Form, in gespeicherten leidvollen Erfahrungen von Vorgenerationen, die uns allen bis heute in den Knochen sitzt und von denen wir eine Ahnung bekommen, wenn wir anschaulich geschriebene Textzeugnisse lesen, die bestätigen, dass die Welt seit Jahrtausenden ein lernresistenter Sauhaufen ist. In dem es allenfalls darum geht, schnell seine Naivität zu verlieren und sich zur Not auf Kosten anderer durchzusetzen. Am besten getarnt durch Fleiß und Freundlichkeit. Diese eingemauerten Anteile dazu zu bewegen, sich ihrer traurigen Weisheit, Schönheit und Liebe zu erinnern und dadurch wieder mit der Welt in Beziehung zu treten, aller leidvollen Erfahrungen zum Trotz, ist der sehr selten erreichte, krönende Abschluss, sozusagen der schwarze Meistergürtel innerhalb der Individualsystemik. Laut Veeta und Artho gibt es eine Handvoll Menschen, die in den letzten Jahren mit ihrer Hilfe diese Schallmauer durchbrochen haben.
Ob ich jemals mein vorderes und inneres System gänzlich erkunden oder gar meine geheimen Machtseiten kennenlernen werde – ob ich jemals so weit kommen werde, weiß ich wirklich nicht. Wovon ich persönlich jedoch überzeugt bin, ist, dass die Individualsystemik anschaulich und logisch ohne religiöses, esoterisches Brimbamborium und auch ohne Leugnung der natürlichen transzendenten seelischen Anteile sehr gut erklärt, warum es auf der Welt nicht so läuft, wie es laufen könnte und sollte!
Zusammenfassung: Was macht dieses System so überzeugend, einerseits so hoffnungsfroh und andererseits so hoffnungslos?
1. Die Individualsystemik ist ein zutiefst ganzheitlicher und umfassender Ansatz, der nicht nur die Komplexität der Einzelpersönlichkeit aufzeigt, sondern auch die untrennbare, konfliktbeladene Verflochtenheit zwischen dem Individuum und der Umwelt. Eigentlich wollen wir alle mit uns selbst und mit der Umwelt in einen konstruktiven Dialog treten. Dass dies so oft misslingt, auch beim gleichen kulturellen und sprachlichen Hintergrund, erklärt dieses System der degenerierten Inneren Personen sehr gut, die in ihren individuellen Metamorphosen ihre vermeintlichen originellen Lösungen gefunden haben, mit den Unzulänglichkeiten von uns selbst und unserer Umwelt umzugehen.
2. Über diese frustrierende und frustrierte Verflochtenheit hinaus wird die tragisch-kreative Dimension unseres Menschseins, auch in ihrer menschheitsgeschichtlichen Dimension, nachvollziehbar: Diese degenerativen Metamorphosen verbindet und verhakt uns nicht nur mit den Zeitgenossen in horizontaler Ebene, sondern auch in der vertikalen mit den Generationen vor uns, deren Nicht-Gelöstes wir alle in uns tragen, kollektiv sichtbar in der Mauer mit den dahinter befindlichen geheimen Mitspielern, die sich komplett aus dem Verkehr gezogen haben. Das heißt bei allem Wollen kommen wir letztlich nicht so vorwärts, wie wir möchten oder könnten! Eine geheime, uns nicht zugängliche Ebene sabotiert uns.
3. Die Individualsystemik zeigt auch die einzig mögliche, nicht utopische Lösung auf, diese tragische individuelle und kollektive Entwicklung umzukehren, die wir als Einzelwesen alle in uns tragen und der wir bis heute bewusst oder unbewusst ausgesetzt sind: Durch das umfassende in Resonanz Treten durch die Gleich zu Gleich Methode erkennen sich die Inneren Personen wieder als das, was sie ursprünglich waren: Als eindeutige, bezogene liebevolle Wesensanteile von allen fünf Kontinenten, die mit anderen Menschen und Wesen dieser Erde einen freudvollen Lebenstanz aufführen wollen. Das Ziel ist im Prinzip ein Hinein in ein freudvolles, selbstbestimmtes, kreatives Leben im vertrauensvollen Umgang miteinander. Diese Sehnsucht haben wir alle!
Aber diese Lösung ist so gut wie unmöglich, denn dazu bedürfte es einer Vielzahl von Leuten, gerade auch unter denen, die eine politische und wirtschaftliche Führungsrolle innehaben, die diesen anstrengenden Rückweg auf sich nehmen. Und einer Vielzahl von sehr guten Therapeuten, die in der Lage und willens sein müssten, diesen dornenreichen Weg zurück zu den Quellen kompetent zu begleiten.
Das mag mit ein Grund sein, dass Veeta und Artho Wittemann inzwischen ihre ermüdende therapeutische Einzelarbeit an möglichst viele Individualsystemiker abgeben wollen. „Wir wollen, dass das Wissen, das wir uns in jahrzehntelanger Arbeit angeeignet haben, möglichst vielen Menschen zur Verfügung steht. Dass auch Institutionen dieses Wissen verbreiten und Menschen motivieren, damit zu arbeiten.“
In diesem Sinne ist den Beiden und allen fleißig übenden Nachfolgern viel Freude, Durchhaltevermögen und Erfolg bei der anstehenden Sisyphusarbeit zu wünschen!
Kleiner Nachtrag: Astrologie und Individualsystemik
Der Ansatz Ich bin Viele spricht natürlich sofort Astrologieaffine an. Denn das Horoskop zeigt auf den ersten Blick, dass unsere Persönlichkeit aus vielen Komponenten besteht. Auffallend auch, dass zehn bis 15 innere Personen der Individualsystemik ungefähr dem astrologischen Personalbestand entsprechen.
Von zwei Seminarteilnehmerinnen der Individualsystemik habe ich ein Horoskop erstellt und versucht, ihre Beschreibungen von einer oder mehrerer inneren Personen in ihrem Horoskop zu finden. Bei einer war es sofort offensichtlich: die Beschreibung ihrer inneren Chefsekretärin entsprach bestens der intensiven Planetenkonstellation in der Jungfrau.
Bei dem anderen Horoskop waren die Bezüge nicht so offensichtlich. Und es haette dazu aufwendiger Puzzlearbeit bedurft.
Ich habe an diesem Punkt aufgehört, systematisch die Parallelen zwischen Astrologie und Individualsystemik zu erforschen. Beide Systeme sind in sich schlüssig und bedürfen nicht der Erklärung durch das jeweils andere System.
i Zitat aus der Filmkritik von Christoph David Piorkowski zum Journalismusthriller „Spotlight“
ii Eine gute Übersicht ihrer Veröffentlichungen ist auf ihrer Webseite www.individualsystemics.com
iii S.196 aus Artho Wittemann „Warum wir erst anfangen uns selbst zu verstehen. Die Architektur der Innenwelt“, J. Kamphausen Verlag, 2009
iv Ebda, S.186