Und so berufe ich mich auf eine Stimme, etwas Schattenhaftes,
Ein fernes, wichtiges Reich in all jenen, die laut reden:
Obwohl wir uns gegenseitig zum Narren halten könnten, sollten wir
uns besinnen –
Denn die Parade unseres gemeinsamen Lebens könnte in
der Dunkelheit verloren gehen.
Und es ist wichtig, dass wache Menschen wach sind,
sonst könnte eine Unterbrechung sie entmutigen,
so dass sie wieder schlafen gehen;
Unsere Signale – Ja oder Nein oder Vielleicht – sollten eindeutig sein:
Die Dunkelheit, die uns umgibt, ist tief.
William Stafford
Nahtstelle Chiron
Kritische Bestandsaufnahme - persönliche Beobachtung – Deutung
Was kann uns dieser Brückenbauer auch hinsichtlich einer anstehenden Revolution vermitteln?
Um die 50 erleben wir alle die Wiederkehr jenes schillernden Gesellen, dessen präzise astronomische Definition immer noch aussteht: Planetoid, Komet, Asteroid?
Knapp 40 Jahre nach seiner Entdeckung sind recht viele, teils sich ergänzende, bestätigende, teils widersprüchliche astrologische Deutungsvorschläge erschienen; die meisten kann man mit dem neutralen Begriff „Brückenbauer“ zwischen Saturn und Uranus auf einen gemeinsamen Nenner bringen, beruft sich dieser zumindest auf Chirons eindeutige, nicht wegzudiskutierende astronomische Umlaufbahn.
Das vom Chiron Verlag herausgegebene Buch „Rätsel Chiron“ (1) gibt einen guten aktuellen Überblick über die deutsch- und englischsprachige Forschung. Der wichtige Beitrag von Petra Niehaus zu Chiron ist leider so platziert, dass seine heilsam-ernüchternde Botschaft inmitten der anderen chironeuphorischen Beiträge etwas untergeht. Daher möchte ich auf ihren 2001 herausgegebenen astrologischen Taschenkalender „Sternenlichter“ zum Thema Chiron verweisen und auch auf ihren Artikel „Chiron jenseits aller Deutungsakrobatik“, den sie zusammen mit ihrer Schwester Beate Niehaus im Meridian 6/2000 veröffentlicht hatte. Gerade ihr kritischer, mythologisch korrekter Blickwinkel, mit dem sie die einseitig-euphorische Chiron-Community hinterfragt, erwies sich für mich als hilfreicher Ausgangspunkt meiner eigenen Forschung im Sinne „Ich weiß, dass ich erst mal nichts weiß“: „(…) es ist meines Erachtens nötig, die Beschränktheit und auch Subjektivität aller Aussagen zu betonen. Vieles wird in der Astrologie schlichtweg behauptet, vorschnell abstrahiert und verallgemeinert.“ (2) Nur die wenigsten, z.B. Hinrich Taeger, hätten bei Chiron wirklich ihre eigenen jahrelangen Beobachtungen und Erfahrungen als eine für Außenstehende nachvollziehbare Grundlage genommen. Und selbst auf dieser Grundlage ist eine überzeugende Deutung alles andere als einfach – denn wie wir alle wissen, laufen meist mehrere Transite parallel, dabei entstehen thematische Ähnlichkeiten oder Schnittmengen, so dass man wichtige innere und äußere Erfahrungen oft nicht nur einem Faktor, in dem Fall Chiron, zuschreiben kann. Daher kommt auch Petra Niehaus zu dem Schluss, dass sie die von Taeger geschilderten Erfahrungen zwar interessant findet, dabei aber zu anderen Deutungsschlüssen gelangt. (3)
Genau das ist die Grundproblematik jeglicher Interpretation – es gibt zwar nur eine Wirklichkeit, die man kurz und bündig als die Energie bezeichnen kann, die auf uns wirkt und auf die wir reagieren, aber immens viele Wahrheiten, fußend auf den individuellen Wahr-Nehmungen derjenigen, die vor dem Hintergrund ihrer jahrzehntelangen Erfahrungen die Wirklichkeit betrachten und interpretieren.
Bei aller Deutungs- und Meinungsvielfalt ist eines klar: Chiron ist bei der Horoskopdeutung nicht mehr wegzudenken, zumindest wenn er in wichtige Geburts-Konstellationen miteingebunden ist, Planeten selbst transitiert oder Transitbesuche von anderen Planeten erhält; neben dem meist verwendeten Schlagwort „verwundeter Heiler“ haben sich „Schlüsselerlebnis, Selbstentfremdung, Zeitrelativierung, Blackout, Unverbundenheit, Orientierungsverlust, Einzelgänger“ als gängige Beschreibungen für Chironerfahrungen durchgesetzt.
In der Chirondebatte gibt es zwei Hauptrichtungen: Diejenigen, die wie Zane Stein, Melanie Reinhardt, Barbara Hand Clow u.a. die Chironbetonungen im Horoskop mit Heilerqualitäten und damit verbundenen schamanisch angehauchten Erfahrungen wie Verletzung, Traumatisierung etc. verbinden und andere wie z.B. Hans Hinrich Taeger, die das nach ebenso erfolgter Analyse vieler Horoskope nicht so sehen.
Wie sagt der Astrologe Eric Frances in seinem Artikel über Chiron treffend? (4) Bei Pluto dauerte es rund 50 Jahre, bis das erste Buch über ihn geschrieben wurde! Bei Chiron brauchte es nur 5 Jahre, bis das erste, wenn auch kleine und vorläufige Buch von Zane Stein (5) erschienen war. Neuentdeckte wichtige astrologische Wegweiser gab es damals selten und da ging es der inzwischen wieder rasch aufblühenden Astro-Community vielleicht auch darum, schnell Aufsehen erregende Pionierschritte zu vollziehen. Innerhalb der Logik „Wie oben – so unten“ sei hinzugefügt, dass es sicher höchste Zeit war, diesen neuen Baustein schnell zu integrieren, da er uns Wesentliches mitzuteilen hat.
Warum hat sich das Schlagwort „verwundeter Heiler“ für Chiron so hartnäckig gehalten?
Petra Niehaus kritisiert zu Recht, dass der Begriff „verwundeter Heiler“ schon rein mythologisch gesehen Chiron nicht gerecht wird. Mythologie ist zwar ebenfalls Menschenwerk, „ein Versuch, unter bestimmten historischen Bedingungen gewachsen, das Leben zu begreifen. Mythen sind keine Tatsachen, sie sind Projektionen, Bilder und Konstrukte“. (6) Trotzdem ist es angebracht, korrekt mit ihnen umzugehen und ihnen nicht etwas unterzuschieben, was sie so nicht vermitteln. Darauf weist auch Herbert Jardner auf seiner sehr lesenswerten und leider nicht mehr im Netz vorhandenen Seite vingilot.de hin, einer meiner Meinung nach sehr gelungenen Synthese zwischen präzisem wissenschaftlichem und symbolischem Denken. Astrologen müssten zumindest so weit korrekt „wissenschaftlich“ im Sinne von Saturn arbeiten, dass sie die Mythologie-Kenntnisse, die sie zitieren, korrekt lesen und wiedergeben können. Wenn nicht, entsteht der Effekt des Spiels „Das arabische Telefon“ und damit die Gefahr, an der Überlieferung vorbei etwas zu konstruieren, das rein inneren subjektiven oder kollektiven Befindlichkeiten und Bedürfnissen, in dem Fall der Astrologen, entspringt. „Chirons Mythos wird in der Astroszene verfälscht wiedergegeben. (… ) Chiron sei aufgrund seiner Verletzung Heiler geworden, was auf uns übertragen heißen soll, dass wir eine unheilbare Wunde in uns haben – nämlich dort, wo Chiron im Geburtsbild steht - , derer wir uns annehmen und der wir uns widmen müssen. Laut Überlieferung war aber Chiron zunächst Heiler und Lehrer, wurde dann verwundet und war daraufhin nicht mehr als Heiler tätig.“ (7) Das ist ein riesiger Unterschied! Und logischerweise schreibt Petra Niehaus gleich am Beginn des Chiron Jahreskalenders aus dem Jahr 2001:„Mir persönlich leuchtet das Bild des verwundeten Heilers nicht ein, gehe ich doch davon aus, dass wirkliche, letztliche Heilung nur von jemandem kommen kann, der/die heil ist.“ (8)
Warum ist dieser Begriff des „verwundeten Heilers“ bei den Astrologen derart beliebt? Welches Bedürfnis zeigt sich bei vielen Astrologen, die diese Definition oft ungeprüft und umso begeisterter übernehmen und anwenden? Meine etwas banale Hypothese: Astrologen sind auch nur Menschen und alle haben auf die eine oder andere Weise ihre menschlichen Probleme, die man auch mit sehr guten astrologischen Kenntnissen und therapeutischen Ausbildungen oft nicht so richtig in den Griff bekommt. Denn das Leben ist letztlich immer größer und einfallsreicher als die Vorstellungen darüber von uns Menschen. Gibt die Definition „verwundeter Heiler“ nicht zumindest – zusätzlich zu eventuell vorhandenen offiziellen Diplomen und Erfolgen im Außen - die kosmische Ermutigung oder gar Legitimation, sich auf diesem verantwortungsvollen Gebiet zu betätigen, gerade auch dann, wenn man als Berater und Therapeut in den eigenen Schwierigkeiten schmort? Man ist zwar angeblich „verwundet“, hat aber bei entsprechender chironischer Betonung im Geburtsbild dann automatisch die innere Berechtigung, sich anderen gegenüber als Berufener zu fühlen. Das macht sich spirituell immer gut! Gerade in der esoterisch angehauchten Astroszene. Kann aber gefährlich sein. Das einzige Gegengift gegen diese selbstverliebte, abgehobene Haltung heißt Saturn, innerhalb dessen Umlaufbahn sich Chiron immerhin bewegt, und damit Bodenhaftung und Skepsis, sich selbst und anderen gegenüber, Überprüfung, kritisches Denken, abwarten können. Mit der Zeit, sprich unter dem Einfluss Saturns, bildet sich dann eine Art überprüfte Erfahrung als glaubwürdige Wahrheit heraus, auf die man sich stützen kann, unabhängig von augenblicklichen oder dauerhaften Meinungen und Bedürfnissen. Auf die der Astrologie systemimmanente Gefahr weist auch Melanie Reinhart hin, der man anmerkt, dass ihre reichhaltigen Chiron-Beobachtungen und Deutungen nicht nur spekulativer Analyse oder euphorischer Begeisterung entspringen, sondern reflektierte Erfahrung in Kombination mit selbstentwickelter emotionaler Reife beinhalten. „Die Schattenseite der Astrologie bezieht – psychologisch gesprochen – den Wunsch mit ein, nach der `Errettung´ von unseren Gefühlen hinein in eine Welt verzaubernder Theorien und anregender geistiger Beziehungen zu gelangen.“ (9) ( ....)“Was wir nicht umfassen können“ - im Sinne eines wirklichen, die seelische Ebene berührenden Verstehens und Verwandelns - ,“wird damit enden, dass wir es auf andere projizieren, seien dies dunkle oder lichte Aspekte unseres Seelenlebens. Chirons Rolle ist dabei sehr interessant, denn er bringt das nach Hause, was draußen war, was wir abgelegt, nicht geachtet oder weggeworfen hatten.“ (10). Dies ist eine höchst wichtige Beobachtung in Bezug auf Chiron: Wie ein zutiefst treuer Apportierhund trägt er uns all das zu, was zu unserer Ganzheit und damit Heilwerdung gehört, nicht zuletzt die unangenehmen Dinge. Denn die angenehmen nehmen wir meist freiwillig in unser Leben auf.
Ich habe Chiron lange ausgeblendet, weil mich die anderen, gängigen astrologischen Bausteine ausreichend beschäftigten und ich mich als Steinbock nicht zusätzlich durch einen ohnehin mangelhaft erforschten Faktor verwirren wollte. Circa 2005/06 kam ich an den Punkt, ihn zumindest in meinem Horoskop zur Kenntnis zu nehmen. Bei einem Chironüberlauf über meinen Merkur im 8. Haus rutschte ich im Winter 2006 auf einem winterglatten Gehweg aus und verletzte meine Schulter. Diese Verletzung war äußerlich nicht weiter schlimm, sie brachte mich aber dazu, „mit seiner Hilfe aus dem Takt gekommen (...)nun sinnvoller und verantwortungsbewusster mit [mir] um[zu]gehen.“ (11). Erst dann nahm ich diesen Energiekörper astrologisch zur Kenntnis und war dann doch überrascht, wie intensiv er in mein Geburtshoroskop eingebunden ist: Konjunktion zu Jupiter in den Fischen nahe dem MC, mit einem Quadrat zur Venus im Schützen und einer Opposition zu Uranus und zu Pluto in der Jungfrau am IC. Ich folg(t)e dabei der Richtschnur von Petra Niehaus, den gängigen Deutungen gegenüber einen kritischen Abstand einzunehmen und primär eigene Erfahrungen, Beobachtungen mit dazu passenden oder eigenen Deutungsansätzen zu verbinden.
Die Horoskope, die ich daraufhin aus meinem Freundes- und Bekanntenumfeld untersuchte, zeigten, dass chironbetonte Horoskope oft unkonventionelle Lebensläufe bedeuten. Und selbst wenn die Betroffenen eine stabile private und berufliche Laufbahn verfolgten, hatten sie immer ein Interesse am Nicht-Üblichen, eine Offenheit auch für Ungewöhnliches, Nicht-Normiertes mit dem nötigen kritischen Blick dem Konventionellen und Unkonventionellen gegenüber. Eric Frances stellt passend dazu in seinem schon erwähnten Artikel fest: Chiron in außergewöhnlicher Position im Geburtsbild von Menschen zeigt signifikant häufig an, dass diese auf ihren Gebieten vielseitig begabte, kreative Pioniere, sprich Brückenbauer sind oder waren, ganz unabhängig vom Thema Medizin und Heilung. Denn „Heilung“ im Sinne von „holon“ = das Ganze ist so unendlich wie das Leben selbst.
Diese Aussage kann ich teilweise durchaus als für mich stimmig unterstreichen. Ich hatte schon immer eine Abscheu gegenüber geradlinigen beruflichen Laufbahnen in Bezug auf mich, auch wenn ich aus einer akademisch-bürgerlichen Familie stamme. Schon früh entwickelte ich großes Interesse an der Astrologie, wollte daraus jedoch nie einen Brotberuf machen. Erst einmal eingeschlagene berufliche Laufbahnen beendeten ich oder auch andere teilweise abrupt, meist bedingt durch die Erfahrung einengender Muster, denen ich mich nicht unterordnen wollte. Gleichzeitig stellte sich nicht wirklich dauerhaft ein befriedigendes freiberufliches Dasein ein, viele Mobbing- und frustrierende Partnererfahrungen konfrontierten mich damit, dass in meinem eigenen seelischen Muster etwas nicht in Ordnung sein konnte. Dem ich trotz einiger therapeutischer Versuche lange nicht auf die Spur kam.
2012/2013 erlebte ich die Rückkehr Chirons. Dabei transitierte Chiron in Opposition über meinen Uranus und Pluto und half mir in Kombination mit seiner Konjunktion zum Radixjupiter, etwas mehr Licht in mein eigenes und familiäres Dunkel (Pluto im 4. Haus) zu bringen. Oder im Sinne von C.G. Jung: „Erleuchtung heißt nicht ins Licht zu schauen, sondern Licht ins Dunkel zu bringen.“ Dabei entstehen naturgemäß dämmrige Schatten, in denen man sich zunächst sehr unsicher fühlt und bei deren Identifikation man sich erst nach und nach zurechtfindet.
Chiron an der Nahtstelle zwischen Saturn und Uranus, an der Schwelle zu einem vielleicht neuen, wiedergeborenen Bewusstsein
Unabhängig vom Entdeckungshoroskop Chirons, von dem es nicht nur zwei Fassungen, sondern auch unterschiedliche Interpretationen gibt, liefert schon der Zeitraum vor allem im Rückblick wichtige Hinweise. Dabei ist es mitunter sehr hilfreich, mit interessierten Nicht-Astrologen über ein astrologisches Thema zu sprechen. Der Blick von so genannten Fachleuten ist zwar intensiv-fokussiert, aber mitunter auch eingeschränkt-tunnelartig bis hin zu einseitig ergebnis- oder auch geldorientiert. Gibt man doch als Fachkraft ungern zu, von einem Phänomen des eigenen Gebiets keine wirkliche Ahnung zu haben.
Ein guter Bekannter von mir kommt regelmäßig zum Tee und wir besprechen dann alles, was mit dem unendlichen Thema Heilung, Erkenntnis und seelischer Entwicklung zu tun hat. Herbert Stumpf hatte mir als Vorstand einer inzwischen aufgelösten Stiftung ein Stipendium vermittelt, das es mir 2010 ermöglicht hatte, in Muße mein Buch „Spirale des Lebens“ schreiben zu können. (12) Außerdem empfahl er mir ein hochinteressantes feinenergetisches Heilsystem, das ich von Ende 2012 bis Ende 2013 zunächst neugierig und dann überzeugt ausprobierte. (13) Bei unserer angeregten Unterhaltung erzählte ich ihm von Chiron, wann er von den Astronomen entdeckt und von Astrologen in ihre Deutungen miteinbezogen wurde.
Herbert Stumpf äußerte ad hoc passende Einfälle: 1977 war die Zeit des Club of Rome, die Entstehungszeit der Grünen, kurzum eine Epoche, in der es offenbar wurde, dass unsere ausbeuterische Haltung der Erde gegenüber so nicht weitergehen kann, wollten wir uns nicht selbst an die Wand fahren oder als technikabhängige aseptische Wesen zum Mars oder sonst wohin in die stockdunkle Galaxis übersiedeln. Es muss ein neues Bewusstsein (Uranus) in uns selbst geboren und dauerhaft verankert (Saturn) werden, um die instinktgesteuerte Natur und Technik, Körper, Seele und Geist miteinander zu versöhnen. So ähnlich hatte sich auch Eric Frances in dem schon erwähnten sehr guten Artikel, veröffentlicht in Meridian (Ausgabe 6-2000), geäußert. Und Ken Wilber, ein Brückenbauer zwischen der saturnischen Welt der Wissenschaften und der uranischen Welt hinreichend aufgeklärter, sprich saturnaffiner Esoteriker, wird auch dahingehend von Petra Niehaus zitiert. (14) Der Widerspruch, der tiefe Konflikt zwischen Geist und Natur muss nicht existieren! Und darf auch nicht mehr existieren, wenn wir uns als humane Spezies nicht selbst ausrotten wollen. Das ist eine der Wahrheiten Chirons, die ich für höchst relevant halte. Und in diesem Sinn halte ich den Begriff „verwundeter Heiler“ für durchaus produktiv, auch wenn er mythologisch gesehen nicht wirklich korrekt ist.
Will man im Laufe seines Lebens wirklich Weisheit im Sinne eines umfassenden mitfühlenden Verständnisses mit sich selbst und anderen erlangen, dann ist genau diese Lebenshaltung des „verwundeten Heilers“ zu entwickeln - eine ehrliche, schonungslose, aber auch empathische Konfrontation mit vorübergehend oder dauerhaft seelischen und körperlichen Verletzungen, die einem das Leben zufügen kann. Durch eigene Schuld oder durch Schuld von anderen. Diese Haltung, gewonnen von Anfang an durch entsprechend mitfühlende Erziehung oder später erworben durch Lebenserfahrung und Revision von Lebenseinstellung, fördert und fordert von uns eine vorbehaltlose Offenheit sich selbst und anderen gegenüber, die weder die Tatbestände beschönigt noch sie verdrängt. In Verbindung von ausreichend Selbstabgrenzung, um sich nicht ueber ein verkraftbares Mass zu verletzen. Und uns gegebenenfalls in Eigenverantwortung beherzt und überzeugt handeln lässt. Und im Falle, dass es sich um authentische, stimmige Verbindungen mit anderen handelt, ist es relativ egal, ob es sich um eigene oder um die Verletzungen Anderer handelt. In beiden Fällen geht einem dann diese Erfahrung sehr nahe, löst sich zwischenzeitlich die Grenze zwischen Ich und Du auf (Saturn-Uranus) und fördert bei allen seelischen und/oder körperlichen Schmerzen eine tiefgehende Erfahrung von Endlichkeit, Grenze (Saturn) und paradoxerweise damit unsere emotionale Reife. Wir machen dadurch einen Sprung (Uranus) innerhalb unserer bisherigen Grenzen (Saturn). Jeder, der eine eigene tiefgehende Krise mit heilsamen Begegnungen erlebt hat, auch in Form von Krankheits-/Krisenbegleitung von Menschen, die einem nahestanden, kann diese Erfahrung bestätigen. Und es ist gerade dieses Leid, das in der Folge ein spirituelles Erwachen nach sich ziehen kann. Der Mensch und unsere Welt sind in der Tat im leidvollen Zustand, bedingt durch individuelles und kollektives menschliches Versagen, das gleichermaßen tröstliche wie untröstliche Aspekte bereithält. Der tröstliche lautet: Wir sind uns letztlich bei allen indivduellen Unterschieden in vielem ähnlich, d.h. auch im Elend nicht allein. Der mehr oder weniger untröstliche: Jeder muss seinen Hintern in entscheidenden Phasen selbst hochbekommen, seine Lebenseinstellung ändern, um sich aus der mehr oder weniger selbstverschuldeten Unmündigkeit im Sinne Kants herauszuziehen. Niemand kann letztlich die Last des anderen tragen, wollen wir einem hinreichend individuellen und selbstverantwortlichen Menschenbild folgen (Saturn-Uranus).
Natürlich gibt es den Durchbruch der eigenen Grenze (Saturn-Uranus) auch in positiver Hinsicht – denken wir nur an die Liebe! In Momenten liebevoller Begegnungen lösen sich die beidseitigen Grenzen auf (Saturn-Uranus), ein teilweise wortloses Verstehen, eine stimmige Empathie und grenzüberschreitende Euphorie mit Freiheitsgefühlen stellen sich ein und damit eine völlig kostenlose Therapie, die der Volksmund in den Sprichwörtern „Liebe ist die beste Medizin“ und „Liebe ist ein Kind der Freiheit“ festgehalten hat.
Unabhängig vom Thema Liebe und Leid/Krise würde ich diese chironische Haltung generell als eine dem Leben gegenüber mitfühlende Wachheit bezeichnen, die bei Menschen völlig unabhängig von äußeren Gegebenheiten oder gar therapeutischen Qualifikationen existiert. Oder auch nicht. In unserer immer noch von Absicherungs- und Statusdenken geprägten Gesellschaft findet sie sich nicht so oft, umso mehr bei „einfachen“, bildungsfernen Menschen anderer Kulturen im Sinne von unverbildet, d.h. häufig in so genannten ärmeren südlichen Ländern.
Auf die Diskussion, inwieweit Chiron Herrscher eines astrologischen Zeichens ist, will ich hier nur kurz eingehen. Meiner Meinung nach ist er kein wirklicher Planet und von daher nicht „berechtigt“, Herrscher eines Zeichens zu sein. Allein seine Umlaufbahn bringt ihn in eine Weder-noch- bzw. Sowohl-als-auch-Position, aus der heraus eine eindeutige Zuordnung zu einer Zeichenqualität völlig unlogisch erscheint. Weitaus nachvollziehbarer erscheint die Zuordnung Chirons zu den Übergangsgraden Steinbock 29 Grad bis 1 Grad Wassermann, die Roscher als Saturn-Uranus-Grade definiert hatte. Auch Döbereiner interpretiert Saturn-Uranus generell als eine Art Soll-Bruchstelle, die eine Unvereinbarkeit beinhaltet. Saturn-Uranus kann meiner Meinung nach durchaus eine Unvereinbarkeit bedeuten, dabei muss es aber letztlich nicht bleiben. Alle Faktoren, Konstellationen im Horoskop sind Energieformen, die sich bei entsprechendem Bewusstsein verwandeln können, insofern wir uns selbst durch tiefgehende Lebenserfahrung wandeln. Denn Bewusstsein ist keine rein astrologisch-geistige Spekulation oder Beobachtung, sondern eine aus tiefer Lebenserfahrung geborene Einstellung. Aus der sich ausschließenden Unvereinbarkeit zwischen Saturn und Uranus kann durchaus eine locker gehaltene, nicht symbiotische Sowohl-als-auch-Form entstehen. Das heißt, aus der unausweichlichen, unversöhnlichen Bruchstelle mit den damit verbundenen Folgen wie Dualität und Tod kann eine vielversprechende Nahtstelle werden!
Da es meiner Meinung nach bei Chiron um ein tiefgehendes kreatürliches Lebensbewusstsein geht, eine seelisch tiefe Verbundenheit mit der Schöpfung, kann ich Wilfried Schütz nicht zustimmen, der Chiron als eine rein geistige Größe interpretiert, der uns „Bewusstheit“ im Sinne von Vorurteilslosigkeit im Denken vermitteln will. (15 )Und meint, diese Korrektur der mentalen Brille würde ausreichen, um das „Paradies auf Erden“ wiederherzustellen! So einfach ist es eben nicht.
Treffend wird Chiron meines Erachtens als jene „unheilbare Wunde“ wahrgenommen, unter der wir mehr oder weniger leiden. Sie hängt primär nicht mit unseren individuellen Defiziten zusammen, sondern verdankt ihre vorerst unauslöschliche Existenz kollektiv-menschlichen Voraussetzungen, die unsere Vorfahren als Verbrechen gegen das Leben geschaffen haben, die wir bis heute kollektiv gesehen stur fortsetzen und daher vererbt bekommen. Diese schwärende Wunde folgt der simplen Logik: Behebe ich Gravierendes beizeiten nicht, verschlimmert sich der Gesamtzustand weiterhin. Dazu später mehr. Literaturaffinen Interessierten möchte ich zusätzlich den beeindruckenden Roman von Nicolas Christopher „Eine Reise zu den Sternen“ als Lektüre nahe legen, der eindrucksvoll schildert oder vielleicht auch vorwegnimmt, was das Sprichwort „per aspera ad astra“ letztlich bedeuten könnte.
Nach diesen allgemeinen Gedanken über den astrologischen Chiron will ich nun den Fokus mehr auf ihn und seine überlieferte Lebensgeschichte richten.
Wer übrigens jetzt schon den 30seitigen Aufsatz am Stück lesen will, kann von mir per Mail und gegen Überweisung eines Betrags von 25 Euro im voraus den Text als pdf-Dokument zugesendet bekommen. Diese Zuschüsse versetzen mich in die Lage, aus dem Aufsatz, der zu einem beträchtlichen Teil eigene revolutionäre, originelle Thesen und Beobachtungen enthält, ein Buch zu verfassen. Diese Pdf-Ausgabe wird mit einigen zusätzlichen Fotos antiker Motive ca. um 3 Seiten länger sein.
Chiron – seine Person und Lebensgeschichte als ein unser Inneres und die Menschheitsgeschichte erhellendes Drama
Will ich ein Phänomen wirklich verstehen, ist der systemische Blickwinkel unabdingbar, demzufolge ein Phänomen nur innerhalb seines Eingebettetseins in überpersönliche und zeitliche Zusammenhänge zu begreifen ist. Daher möchte ich Chirons Mythos als Teil eines persönlichen Dramas nacherzählen, das kollektiv betrachtet auch die Tragödie der menschlichen Geschichte im Allgemeinen spiegelt. Erst ganz zum Schluss sei vor diesem Hintergrund auf das Horoskop seiner Entdeckung eingegangen. In der Astrologie grassiert immer noch die Unart, das Horoskop, gedeutet aus der rein persönlichen Perspektive des Astrologen, als erste und letzte Wahrheit herzunehmen, es unabhängig von Zeit und Raum zu interpretieren. Das ist gefährlich und zeugt von abgehobener, geistiger Arroganz! Denn damit wird eine rein subjektive, am Himmel abgelesene Perspektive objektiviert - dieselbe Konstellation kann schließlich sehr unterschiedlich gedeutet und gelebt werden. Erst wenn wir den zeitlichen Hintergrund, den zeitlichen Abstand sowie relevante, reflektierte Erfahrungen dazunehmen, können wir uns überzeugend einer persönlichen Wahrheit nähern, die unter Umständen auch den Boden für eine mehr oder weniger vorübergehende, allgemeingültigere Wahrheit hergibt, aus der sich am Ende die Deutung des Horoskops vielleicht wie von selbst ergibt. Vergessen wir eines nicht: Fakten erschaffen schlussendlich die Wirklichkeit und nicht eine kosmische Blaupause. Und vorerst leben wir immer noch und hoffentlich dauerhaft auf der Erde.
Mythos heißt zunächst schlicht Erzählung und wie es oft mehrere Variationen eines Mythos gibt, gibt es auch mehrere Fassungen von der Herkunft Chirons. Etymologisch hängt übrigens Mythos mit dem englischen Wort „mouth“ und unserem „Mund“ zusammen! Es waren damals eben wertvolle, erhellende Geschichten, deshalb von Mund zu Mund erzählt und über Generationen und weite Landstriche überliefert, mit Zusätzen und Änderungen, die den Bedürfnissen der Erzählenden und der Zuhörenden gleichermaßen Rechnung trugen. Diese „translatio“, die mündlich weitergereichte Übergabe von wertvollen Erfahrungen, ist ein höchst differenzierter, vieldeutiger und verwirrender Prozess. Daher sollte man sich nicht so sehr in die saturnische Perspektive verbeißen „welche Fassung ist jetzt aber die Richtige?“, sondern den merkurisch-jupiterhaften Charakter des Erzählens sich zunutze machen: Welche Fassung spricht mich gerade besonders an und inwiefern hat das mit einer inneren Seite von mir zu tun, deren ich mir dadurch bewusst werde? Und inwiefern ergibt das, was und wie ich es erzähle, darüber hinaus einen Sinn, der vielleicht allgemeingültige Züge aufzeigt?
Es geht mir vor allem darum, die aus meiner Sicht relevanten Standpunkte und bisher vernachlässigten Blickwinkel mit meinen Beobachtungen und Erfahrungen zusammenzufügen, so dass im Sinne einer Chiron-Forschung sich das Bild jenes rätselhaften Planetoiden einem Puzzle gleich weiterhin vervollständigen und damit erhellen kann. Wobei aus meiner Sicht dieses Rätsel gelöst ist.
Welche Personen sind mythologisch, also im Sinne der Lebensgeschichte von Chiron, relevant?
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Zunächst natürlich seine Eltern Chronos und Phylira. Kinder verdanken den Eltern nicht nur ihre leibliche Existenz, sondern darüber hinaus mehr oder weniger im guten wie im schlechten Sinne oft deren seelische Grundkoordinaten. Meine Fragen hier lauten vor allem: Inwiefern muss Chirons Gestalt (Hinterleib eines Pferdes) vor allem als unerlöste Seite seines Vaters gedeutet werden? Inwiefern ist seine Biographie ein beeindruckendes Beispiel dafür, dass auch eine unglückliche Herkunft große Chancen und Entwicklungen birgt? Dieser Ansatz ist natürlich nicht neu; ich wiederhole ihn hier, um meine persönliche Sicht von Chiron zu entwerfen.
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Sein Ziehvater und/oder Freund Apollon, der ihn ausbildete und erzog. Der Sonnengott signalisiert hier schon ganz deutlich, dass es auch beim Thema Chiron neben dem Erwerb von Kenntnissen um das Erringen eines göttlichen, d.h. unsterblichen Bewusstseins geht.
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Viele griechische Helden waren Chirons Schüler. Chiron gibt hier weiter, was er von seinem Ziehvater gelernt hat. Dieses Wissen und nicht zuletzt sein Wesen machen ihn zu einem begnadeten Pädagogen, der über die intuitiv-emotionale Ebene einen wirklichen Zugang zu seinen Zöglingen hat, ohne sie zu missbrauchen und zu beherrschen.
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Sein Freund Herakles, Sohn des Zeus, der ihm unbeabsichtigt den Tod brachte. Dies kann man als echte Lebenstragödie betrachten im Sinne „zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein“ Herbert Jardner verweist hier in seinem Chironaufsatz auf seiner Seite https://gruenesonnen.files.wordpress.com/2015/03/chiron.pdf auf die „Wozu-Ebene“, das heißt darauf, dass auch diese tödliche Wunde ihren Sinn hat, denn sie ermöglicht Chiron den Abstieg in die Unterwelt, eine klassische Stufe innerhalb einer echten Helden-Biographie.
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Die lernäische Hydra, aus deren vergiftetem Blut der Todespfeil für Chiron stammte. Was für ein Mistviech war sie? Wofür könnte sie bis heute stehen?
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Kentauren, die sich nicht zügeln konnten, daher isoliert lebten und die der Auslöser dafür waren, dass Herakles seine Giftpfeile zum Einsatz brachte.
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Der wegen seines Frevels den Göttern gegenüber an den Felsen gekettete Prometheus als Möglichkeit des Gefangenen-Austausch für Chiron, sich durch den selbst gewählten Tod von seinen Schmerzen zu befreien. Der befreite Prometheus als Verkörperung des entfesselten Uranus-Prinzips steht dann für die Haltung, die sich dann innerhalb der Menschenwelt durchsetzen wird. Mit bis heute spürbaren Folgen.
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Zeus, der über die Vermittlung von Herakles dem Deal zustimmt und Chiron in Form eines Sternbilds am Himmel verewigt. Zeus ist überdies in der griechischen Mythologie die Kraft, die zwischen unten und oben vermittelt, dessen Vater Chronos und dessen Großvater Uranus war. Diese Genealogie gilt es als relevanten Hintergrund von Chirons Elterngeschichte mit in Betrachtung zu ziehen, wenn wir der wahren Botschaft von Chiron auf die Spur kommen wollen.
1. Entstehungsgeschichte: Durchgegangener Trieb erzeugt weisen Sprössling
Chiron ist ein einer Vergewaltigung entsprungenes Kind von Kronos/Saturn, seinem göttlichen Vater, und von der Nymphe Philyra, einer Tochter des Okeanos und der Thetis. Sei es, um nicht von seiner Frau Rhea gesehen zu werden, sei es, um die in Gestalt einer Stute davoneilende Philyra einzuholen, verwandelte sich Kronos in einen Hengst. Das dem Schatten entsprungene Verhalten von Kronos, d.h. sein verstecktes Fremdgehen und sein Nicht-Einstehen für dessen Folgen, hat logischerweise Folgen für das illegitime Kind: Es macht das sichtbar, was sein Vater verborgen halten wollte, nämlich den unzivilisierten, unkontrollierten Trieb, was dazu führt, dass Chiron den Hinterleib eines Pferdes hat. Damit sieht Chiron zwar aus wie ein Kentaur, ist es jedoch nicht. Ganz im Gegenteil – Chiron ist ein Musterbeispiel dafür, dass eine problematische, d.h. lieblose Herkunft erfolgreich überwunden werden kann, sofern sich kompetente Wegweiser finden, die dem lernfähigen und lernwilligen Zögling seine Stärken und Schwächen so bewusst machen können, dass dieser sogar vorbildlicher Erzieher wird! Die Eltern scheinen überdies direkt auf in Chirons Erzieherkapazität Krebs (Nymphe Phylira, Mond) – Steinbock (Saturn). Diese Achse der Erziehung eignet er sich im Sinne Goethes sehr erfolgreich an: „Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen.“
Was die Variante betrifft, laut der seine Mutter ihn verstößt, möchte ich ebenfalls Petra Niehaus zustimmen. Sie kritisiert die wehleidig-psychotherapeutische Haltung vieler Chironverliebter, (16) nach der der arme Wicht mutter- und schutzlos dem gefährlichen Leben preisgegeben wird und dadurch irreparable seelische Schäden erleidet. Das verstoßene Kind als Begründung anzuführen, dass hier schon bei Chiron die erste unheilbare Wunde angelegt wurde, ist nichts als Projektion unserer verwöhnten und abgesicherten Gesellschaft.
Um den Mythos angemessen lesen und deuten zu können, sollte man klar unterscheiden zwischen heutiger und damaliger Zeit: Das Verstoßen eines Kindes war damals normal, Vergewaltigung an der Tagesordnung.
Auch die in manchen Varianten genannte Verwandlung Philyras in eine Linde ist alles andere als furchtbar traurig in unserem Sinne. Die vorchristliche Antike war sich sehr wohl dessen bewusst, dass das menschliche Dasein nicht unbedingt erstrebenswert ist. Mehrere Geschöpfe verwandeln sich freiwillig oder unfreiwillig in Pflanzen oder andere Geschöpfe. Philyra bittet in dieser Variante ausdrücklich um die Verwandlung in einen Lindenbaum, was ihr auch gewährt wird. Jardner weist überdies daraufhin, dass die Linde in der Antike ein heiliger und ein heilkräftiger Baum war und auch in dieser Form zum Heilkundewissen von Chiron beigetragen haben mag. (17). In einer anderen Variante verstößt Philyra übrigens ihren Sohn nicht und zieht ihn in der am Berg Pelion gelegenen Höhle auf.
Interessant bei Chiron ist auch der Widerspruch zwischen äußerer Gestalt und innerem Wesen; er sieht nur so aus wie die primitiven Kentauren, die im Gegensatz zu Chiron sich nicht kontrollieren können und deren Unbeherrschtheit der Auslöser wird, dass ausgerechnet Chiron, das hochkultivierte Mischwesen, stirbt. Seine Gestalt macht uns bis heute bewusst, dass das, was man sieht, nicht immer der wahren inneren Einstellung entspricht, Außen und Innen oft unterschiedlichen Dimensionen angehören.
Auf mehreren altgriechischen Vasenbildern und Tellern sind seine Füße sogar menschlich dargestellt! Das zeigt zumindest, dass nach Auffassung der alten Griechen Chiron als hochstehendes, weises menschliches Wesen betrachtet wurde, dessen Genealogie und Wesen nicht im Zusammenhang stehen mit den Primitivlingen der Kentaurenbande. Berühmte Väter brachten ihm ihre Söhne in langjährige Obhut und illustrieren eine Tradition, in der Erziehung zwar Trennung von den leiblichen Eltern implizierte, aber großes Vertrauen und emotionale Nähe zwischen Ziehvater und Zögling beinhaltete.
2. Blut ist nicht immer dicker als Wasser
Die Beziehung zwischen Apollon und Chiron wird in den Mythen unterschiedlich geschildert. Nach einer Fassung ist Apollon Ziehvater von Chiron und bringt ihm alles bei, was Chiron dann auch seinen Zöglingen weitergibt: Musik, Prophetie, Jagd, Kriegskunst, Medizin. Er ist also auserwählter Schüler des Sonnengottes, des Schutzgottes des Orakels von Delphi, nimmt als hochbegabter Schüler diese göttlichen Fähigkeiten auf und gibt sie später dank seiner begnadeten pädagogischen Fähigkeiten an seine jungen, männlichen Schüler weiter, auch in Form einer innigen emotionalen Anteilnahme, jedoch ohne Absicht, seine Schüler auszunutzen oder zu beherrschen. Eine gute Illustration seines mitfühlenden pädagogischen Wesens ist das Gemälde von Herculaneum.
Nach anderen Fassungen wird Chiron der Freund Apollons, der ihm die Gabe des Bogenschießens verleiht. Auch das ist eine interessante Variante – Freundschaft als Begegnung auf Augenhöhe, auf Basis von Freiwilligkeit. Apollons Geschenk des Bogenschießens könnte man als Metapher der unsterblichen Sonne nehmen dafür, Ziele zu erkennen und zu verfolgen.
Chiron, obwohl unsterblich, lebt bescheiden in einer Höhle, integriert also plutonische Dunkelheit und Unsichtbarkeit als Teil notwendiger Regeneration, verbringt sein Leben inmitten der Natur und heilt auch Tiere. In ihm manifestiert sich die problemfreie und höchst gelungene unsterbliche Synthese Tier – Mensch – Gott!
Mit seiner Frau Chlariklo, ebenfalls Nymphe wie seine Mutter, hat er eine Tochter namens Endeis. Ihr sterblicher Sohn Peleus gewinnt durch den weisen Rat seines Großvaters Chiron die Meeresgöttin Thetis zur Frau. In anderen Fassungen ist Chiron nicht der Großvater von Peleus, hilft ihm aber trotzdem bei der Werbung. Allein das zeigt eine gewisse Wesensverwandtschaft zwischen ihnen. Peleus verliert zwischenzeitlich seine Gattin, sie holt ihn aber am Ende seines Lebens zu sich. Auch hier zeigt sich eine mitfühlende, liebevolle Verbindung zwischen dem Menschlichen und Vegetativ-Göttlich-Neptunischem. Hintergründiges (Fische) und Vordergründiges sind hier auf harmonische Weise fusioniert. Leider ist die Hochzeit, die perfekte Vermählung zwischen Wasser und Erde in Form des Bräutigams Peleus und der unsterblichen Meeresgöttin Thetis, der Beginn neuen Unheils. Alle Götter und Göttinnen sind eingeladen, nur Eris nicht, die Zwietracht. Sie erscheint unangekündigt und wirft den berühmten Apfel unter die Gäste mit der Aufforderung, dass Paris die schönste unter den drei Göttinnen Athene, Hera und Aphrodite auswählen soll. Und dieser zunächst harmlos aussehende Wettbewerb wurde zum Auslöser für den Trojanischen Krieg!
Chirons Welt steht völlig im Gegensatz zum Treiben der Egowelt von Göttern und Menschen: Vergehen, Seitensprünge oder anderweitige fragwürdige erotische Abenteuer gab es bei ihm nicht. Alles in allem also ein vorbildlicher, friedlicher, treuer Mann, Vorläufer unseres heutigen evolutionären Männerbildes im Sinne eines Neptun-Mars in hervorragender Frequenz: friedlich, intuitiv, ganzheitlich, empathisch, musikalisch und durchaus männlich. Vergessen wir nicht: Chiron vermittelte auch Kriegskunst und Jagd, war also kein harmoniesüchtiger Schluffi in Birkenstockschlappen und verdrängten Aggressionen! Kriegskunst und Jagd vermittelte er jedoch nach dem Gesichtspunkt Unterordnung unter das große Ganze – also keine sinnlose Abschlachterei und Egomanentum. Und nicht von ungefähr hält sich Chiron am längsten in den Zeichen Fische und Widder auf. Beiden ist er als Jäger und Verkünder (Mars) im Namen des Großen Ganzen (Neptun) zutiefst verbunden.
Die Liste seiner Schüler ist das Prominentenregister der griechischen Mythologie: von Jason und Achilleus bis hin zu Asklepios, dem Gott der Heilkunde und Sohn Apollons. Dank seines von Chiron erworbenen Wissens schafft es Asklepios sogar den Tod zu überlisten und Tote wieder lebendig zu machen. Das wird dann Zeus aber doch zu viel: Er erschlägt Asklepios mit seinem Donnerkeil. Verehrt wurde Asklepios als unsterblicher Gott der Heilkunde weiterhin in Gestalt von Schlangen, den ihm heiligen Tieren. Das Äskulapsymbol, eine Schlange, die sich um ein Gefäß windet, ist bis heute fester Bestandteil unserer Apothekenschilder.
2. Woran scheitert Chirons unsterblich-harmonische Existenz?
So weit, so gut. Chirons Leben verläuft eigentlich nach dem zeitlos schönen Märchenende „Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.“ Dass das nicht der Fall war und ist, weder für Chiron noch für uns, erzählt viel über uns und unsere bis heute falsch verstandene Auffassung von Leben, die wir von unseren Vorfahren und Eltern, unseren Göttern, unerledigt vererbt bekamen und meist – weil unreflektiert und unhinterfragt - übernommen haben.
Die Tragik Chirons ist: Obwohl er friedlich, großzügig und bewusst innerhalb seines größeren Lebenszusammenhangs lebt, wird er Opfer der Spezies Halbgott und der primitiven Kentauren, die es aus diversen Gründen nicht fertigbrachten, dauerhaft hinreichend friedlich im Hier und Jetzt zu leben. Wobei friedlich eben nicht heißt, Aggressionen und Konflikte auszublenden. Die wird es ja immer geben, die Frage ist halt nur, wie mit ihnen umzugehen ist.
Inwiefern kann uns die griechische Mythologie hier eine Antwort geben? Eine Antwort, die uns heute noch ansprechen und ggf. so inspirieren kann, dass wir vielleicht im Weg von Innen nach Außen eine Rück-Versöhnung mit der inneren und äußeren Natur in einer friedlichen Revolution bewirken können? Und damit eine wahrhaft freudvolle Existenz für uns selbst und andere jenseits von oberflächlicher Wellness und teurem Schnickschnack für Wenige wiedergewinnen können?
3. Chirons Geschichte als Drama vor dem Hintergrund seiner Genealogie
Eine Schülerin von mir brachte ein Lebensgesetz treffend mit den Worten zum Ausdruck, dass wir ständig damit beschäftigt sind, uns innerhalb unseres Lebens in etwas oder jemanden „hinein- oder herauszuzoomen.“ Bisher zoomte ich mich eher in Chirons persönliches Leben hinein. Zoomen wir uns jedoch heraus und betrachten wir die griechischen Mythen aus einem größeren Abstand heraus, fällt folgendes auf: Es geht von Anfang an, das heißt mit der Entstehung der Welt, auch im griechischen Schöpfungsmythos um den Bezug zwischen Unten und Oben, um die vertikale Durchlässigkeit oder Nicht-Durchlässigkeit zwischen Himmel und Erde auf der einen Seite und um horizontale Beziehungen zwischen den Handelnden, sei es innerhalb der natürlich-sterblichen Welt der Tiere und Menschen sowie der unsterblichen Götterwelt auf der anderen. Nicht zu vergessen: Als unsterblich galten und gelten die Götter so lange, wie sie angebetet wurden! Die Menschen- und die Götterwelt existieren sowohl getrennt als auch vermischt. Götter paaren sich mit Menschen, es entstehen Kinder aus diesen Mischehen, die wie jeder andere Sterbliche auch ihre Lebenskämpfe zu bestehen haben, deren Meisterung nach vorchristlicher antiker Auffassung dann ein unsterbliches Leben auf dem Olymp oder eine schattenhafte Existenz im Hades zur Folge hat.
In beiden Welten, d.h. der Götter- und der Menschenwelt, existieren bezeichnenderweise Betrug, List, Verrat, Täuschung, Vergewaltigung und Mord. Aber auch Leidenschaft, Liebe, Mitgefühl, Hilfe. Genau das macht die griechische Mythologie so menschlich! Das sind die Konstanten und je nachdem, wie die senkrechte und waagrechte Beziehung zwischen den Welten und ihren Protagonisten ist, verläuft das Leben in guten oder eben schlechten Bahnen.
Als astrologisch Versiertem kommt einem natürlich sofort das Kreuz als graphisches Symbol in den Sinn, das Geburtshoroskop als Sinnbild für das Kreuz des Lebens, das wir alle tragen müssen. Die waagrechte Linie steht für die AC-DC Linie und die senkrechte für die IC-MC Linie. Christen bringen es in Verbindung mit dem Kreuz, an dem Christus angeblich stellvertretend für alle gestorben ist, zumindest für diejenigen, die an ihn glauben.
Gemäß der Goethe-Aussage „Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen“ steht unser Leben, ob wir es wollen oder nicht, in einem größeren geistig-seelisch-körperlichen Zusammenhang. Wir existieren sowohl in einem senkrechten, d.h. mit unseren Vorfahren verbundenen, als auch in einem waagrechten Sinn in Form von Begegnungen und Beziehungen, die z.B. in Form von Freundschaften, Partnerschaften oder Arbeitsverhältnissen keine unmittelbare Verbindung zu unseren jeweiligen Ahnen haben. Aber häufig ist es so, dass ungeklärte familiäre Hintergründe – also die Senkrechte – die waagrechten Beziehungen mitbelasten. Etwas zieht uns hinunter und wenn wir Aufschluss und damit Besserung erreichen wollen, müssen wir „hinabsteigen“ und uns diese Lasten ansehen. Eine Möglichkeit dazu bieten heute Familienaufstellungen.
Dort werden bezeichnenderweise fast immer auch die Großeltern aufgestellt. Das heißt, innerhalb von drei Generationen kommt das Belastende und daher zu Beleuchtende im Wesentlichen aufs Tapet.
Übertragen wir das jetzt auf Chiron – wer in der griechischen Göttergenealogie waren seine Großeltern? Das waren immerhin Uranus und Gaia. Und Gaia ist wohlgemerkt unsere Erde, der Planet, auf dem wir leben! Laut der Theogonie Hesiods zeugte Gaia sogar Uranus aus sich selbst heraus, ohne weiteres männliches Prinzip, und dieser selbstgezeugte Sohn wurde auch ihr Geliebter und Vater etlicher Kinder. Das ist hochinteressant: Der Himmel als ein ursprünglich aus dem Irdisch-Weiblichen geborener Vorstellungsraum. Die Geschichte von Uranus und Gaia zeigt, dass ursprünglich Himmel und Erde wirklich zusammenkamen! Dass gleichsam die Eichendorffsche Zeile galt „Es war, als hätt der Himmel die Erde still geküsst...“ Doch halt, so war es eben nicht! Es war kein „Himmel auf Erden.“ Warum nicht?
Himmel und Erde, Uranos und Gaia, kamen zwar geschlechtlich zusammen, aber es herrschte keine wirkliche Liebe zwischen ihnen. Denn Uranus benimmt sich bald als das patriarchal autonom agierende Machtprinzip. Er zensiert die Nachkommen teilweise und stößt die, die ihm nicht gefallen, in die Erde zurück, stoppt also den natürlichen Fortgang des Lebens. Kennen wir das nicht bis heute? Isoliert agierende Menschen, oft Männer, die natürliche Lebensprozesse künstlich regulieren wollen, gegen die (eigene) Natur handeln? Das lässt die vor Schmerzen krümmende, tief gekränkte Mutter natürlich nicht zu und fordert ihren Sohn Saturn dazu auf, den Vater zu töten. Was Saturn dann auch macht. Er kastriert seinen Vater zu einem Zeitpunkt, wenn er wehrlos ist, d.h. während des Beischlafs mit seiner Mutter. Die Geschlechtsteile von Uranos fallen ins Wasser, aus dem Blut entstehen u.a. die Furien und aus dem Geschlechtsteil in Verbindung mit dem Meerschaum Aphrodite. Es ist eine Art Äquivalent zur biblischen Abel und Kain Geschichte, mit interessanten Unterschieden und Gemeinsamkeiten. Gemeinsam ist die Untat im Sinne von „Lösung durch Gewalt.“ Kennen wir das nicht auch bis heute?
Die Göttereltern schaffen es nicht, ihre Konflikte untereinander zu lösen, so ins Gespräch zu kommen, dass Uranus einsieht, dass das so nicht geht, dass Kinder sehr wohl ein Recht auf eigenes Aussehen, auf einen eigenen Charakter und eigene Lebensziele haben, auch wenn es den Vater nicht begeistert. Gaia und ihre Nachkommen könnten dann ungehindert in Einklang mit dem natürlichen Wachstumsprozess leben. Die Nicht-Liebe der Eltern, ihre ungelösten Konflikte, ihr daraus resultierender Zwist hat also eine grundsätzliche, nicht wieder gut zu machende Trennung zwischen dem himmlischen und irdischen Bereich zur Folge. Bis heute! Was gibt es für Kinder und damit für die Gesellschaft Belastenderes als belastende und belastete Familien? Modern gesprochen könnte man den beiden heute sagen: „Wenn ihr euch nicht vertragt und euch nicht lieben bzw. nicht wenigstens respektieren könnt, dann trennt euch halt. Sucht Alternativen! Macht eure Kinder nicht zu euren Stellvertretern, lasst eure Kinder nicht für eure Unfähigkeit leiden oder gar sterben!“ Die Paartherapie kam also – leider - für Gaia und Uranos nicht in Frage. Saturn, clever-egoistisch genug, um zu sehen, dass nach dem Vatermord er zumindest der Boss wird, übernimmt den schmutzigen Job. Mit erst mal unumkehrbaren Folgen. Uranus ist dann weg vom Fenster und taucht persönlich in den zeitlich gesehen darauf folgenden Götter-Mythen logischerweise nicht mehr auf. Er wird zum rein geistigen Prinzip, unzugänglich verbannt in den Himmel und steht uns Menschen und der Erde nicht mehr unmittelbar zur Verfügung. Nicht umsonst spricht Christus vom „Vater im Himmel“ und wir bis heute von einer mehr oder weniger vaterlosen Gesellschaft! Einer Gesellschaft, in der die Männer oft auch in verantwortlichen Positionen aus Feigheit und Opportunismus ihre emotionale, soziale Verantwortung dem großen Ganzen gegenüber ausblenden!
Wie immer, entsteht Schlimmes und potenziell Gutes in Form von Hoffnung mit dieser Untat. Die Furien signalisieren Saturn ganz klar: „Glaub bloß nicht, du kommst mit dieser einfach-grausamen Lösung billig weg!“ „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ gilt auch in der griechischen Mythologie. Auch dort wurden Untaten gerächt, oft von Familienmitgliedern, manchmal von Göttern, oft auch von den Moiren, d.h. den drei Schicksalsgöttinnen. Letztere waren sogar den Göttern übergeordnet! Diese Rache war in welcher Form auch immer nicht lustig, aber doch irgendwie notwendig im Sinne eines Ausgleichs. Denken wir nur an die furchtbaren Familientragödien „Orestie“ oder „Ödipus.“ Und präzise nach dem „Wie du mir, so ich dir“ wird Saturn später von seinem unerwünschten und gefürchteten Nachkommen Zeus „wegrationalisiert“, obwohl er aus angstbesetzter Vorsorge alles dafür tut, diese Weissagung nicht wahr werden zu lassen. Im Unterschied zu seinem Vater Uranus verschlingt er sicherheitshalber gleich seine Nachkommen, nachdem sie auf der Welt sind. Seine Frau Rhea erhält dieses Mal Hilfe von ihrer Mutter Gaia. Sie umhüllen einen Stein mit Windeln und geben diesen Saturn zu fressen. Der Schwindel gelingt und der gerettete Zeus wird später der Padre Padrone des Olymps. Dieses „Rache ist Blutwurst“-Prinzip“ ist die eine Straße. Es bleibt noch ein anderer Weg. Die Liebe. Natürlich noch schwieriger - bis heute. Denn schauen wir uns unsere Zeit an, sind wir einesteils froh, uns von unseren Partnern trennen zu können. Die Freiheit der Wahl garantiert aber noch lange nicht unseren langfristig befriedigenden individuellen Erfolg! Sie macht ihn jedoch immerhin möglich, mit allen Risiken und Nebenwirkungen.
Im griechischen Mythos jedenfalls wird erst nach dieser Untat die Göttin der Schönheit und der Liebe geboren, Aphrodite, die Schaumgeborene. Sie verheißt unter anderem: Nur über die individuelle Begegnung, über die Liebe, besteht vielleicht künftig die Möglichkeit, diese schmerzhafte Ent-Zweiung zwischen Uranus und Gaia, zwischen Himmel und Erde, mit der Ent-Zweiung und Tod einhergehen, zu überwinden. Dabei müssen jedoch auch Schattenanteile, d.h. eigene unbewusste Anteile und Lasten vorheriger Generationen, geborgen werden, die nicht nur aus der individuellen Familiengeschichte, sondern letztlich aus der kollektiven Menschheitsgeschichte herrühren! Die verdreckte Suppe muss schließlich bis auf den Boden bereinigt werden, soll sich ernsthaft und tiefgehend etwas auf dieser Welt verändern. Denn die Renovierung im oberen Teil eines Hauses macht keinen Sinn, wenn der Keller, das Fundament, vielleicht sogar der Boden selbst marode sind. Kernsanierung ist angesagt: eine regelrechte Sysiphos Arbeit, eine Heiden-Arbeit. Wer will sich das schon antun? Ist es da nicht besser, dem Glauben zu folgen oder ihn gar zu entwickeln, einer macht die Arbeit für alle? Ein Dummer, Naiver, der vielleicht noch dabei glaubt, einen Heiligenschein, ein Standbild oder ein Tempelchen dafür zu bekommen? Und das sei ihm oder ihr vielleicht von den offiziellen Machos oder Machas gegönnt. Oder auch nicht. Vor allem, wenn er oder sie uns kritisiert. Dann erklären wir ihn oder sie zum Verbrecher, Verrückten, schwarzen Schaf, Perversling, Rechten oder Linken, Hundskrüppel oder Hinterfotzigen. Schluss, aus, Amen. Den Schatten anrühren ist ehrenrührig. Ist Tabu. Und wehe, jemand bricht dieses Tabu innerhalb einer Gesellschaft, einer Familie, einer Firma etc. Da ist es völlig egal, ob das eine angeblich demokratische oder diktatorische Gesellschaft ist. In diesem Punkt sind sich alle gleich: “Schlafende Hunde weckt man nicht“ und „Den letzten beißen die Hunde.“ Und die anderen haben dann ihre Ruhe und können sich noch ins Fäustchen lachen, dass sich ein Dummer gefunden hatte.
Kurzum, wir Menschen, ob wir wollen oder nicht, sind von Anfang unserer Existenz an diesem Dilemma ausgesetzt: Eine Pseudoharmonie im Sinne von permanent Friede, Freude, Eierkuchen hilft schon mal nicht! Es sei denn, wir wollen unsere Lebensenergie zugunsten einer fragwürdigen Bequemlichkeit und Pseudoexistenz abschnüren. Ebenso wenig wie andauernder Zwist und/oder Schuldprojektion weiterhelfen. Denn damit leben wir zumindest im dauerhaften Kriegszustand, in dem wir uns seelisch auch nicht produktiv weiterentwickeln können. Vor allem dann, wenn die Gegenseite sich weigert, ihren Anteil anzuerkennen. Oder gar beide Seiten sich weigern, ihren Anteil überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Wie Uranos und Gaia. Die damit von vornherein, ähnlich wie Eva und Adam nach der biblischen Logik, eine gewaltige kollektive Erblast hinterlassen haben.
Und ist es vielleicht dieser verhängnisvolle Schatten im Sinne plutonischer Dunkelheit, den wir mit jeder Lüge, Nicht-Liebe und Ent-zweiung seit Uranus und Gaia, zwischen Himmel und Erde, von Mutter und Vater erst mal zementieren, hinnehmen, anstatt ihn wirksam anzuschauen und zu verwandeln? Um es vielleicht wieder gutmachen zu können, was damals geschah?
Denn erstmal wurde nichts gut. Ganz im Gegenteil. Es wurde alles nur schlimmer. In dieser Hinsicht ist der Mythos gnadenlos ehrlich und wahr. Der Mensch übernahm und übernimmt bis heute die Trickserei der Götter. Und verliert damit seine harmonische Verbindung zu sich selbst und damit zu Himmel und Erde, d.h. zur Natur und zu seinem himmlischen Ursprung. Und trägt dazu noch bei, dass andere Unschuldige auch noch ihr eigenes göttliches Leben verlieren. So wie Herakles dazu beitrug, dass Chiron unschuldig sterben musste. Auch hier muss ich etwas ausholen.
4. Herakles oder fehlgelebtes Heldentum
Herakles wird in der Mythologie als Freund von Chiron bezeichnet. Ich lese das etwas skeptisch; ich glaube eher, die beiden tolerierten sich durch freundliche und örtliche Distanz. Das einzige Mal, bei dem ihre unmittelbare Begegnung geschildert wird, läuft es für Chiron ganz übel. Warum? In meinen Augen ist Herakles der Inbegriff sinnentleerter kämpferischer, begegnungsunfähiger Aggression. Gerade auch die berühmten zwölf Aufgaben, die er als Strafe für seine Frevel an sich leistungsmäßig tadellos bewältigt, sind verpulverte Kraft ohne Sinn und Ziel; Taten, die ähnlich wie diese Guinessrekorde oder Formel 1 Rasereien niemand braucht und nach denen nichts dauerhaft besser wird. Umso erstaunlicher finde ich es, dass die alten Griechen, die ja überaus Intelligentes zu Wege brachten, diese Art von Kraftmeierei auch noch für gut und bewundernswert hielten. Denn zahllose Statuen von Herakles in der griechischen und römischen Antike bezeugen bis heute: Das war ein toller Typ, dem es nachzueifern gilt!
Michael Köhlmeier – intelligenter und brillanter Erzähler in Wort und Schrift – ist in seinen sehr originellen Nacherzählungen griechischer Sagen und Mythen erstaunlicherweise auch auf der Seite von Herakles. Nach dem Motto „Der Arme musste ungerechterweise so viel leiden.“ Genauer betrachtet ist es eigentlich nicht ungerecht, denn Herakles ist und wird sich seiner selbst überhaupt nicht bewusst. Bis zum Schluss. Sein Horoskop scheint ausschließlich aus Mars in Widder zu bestehen, in Konjunktion mit Pluto, Jupiter und/oder Uranus.
Besinnung oder gar Einsicht ersetzt er durch Jähzorn oder gar Wahnsinn, in dem er sogar seine Frau und Kinder umbringt. Das heißt, auch die, denen er nahe steht, sieht er in diesen extremen Wut-Phasen als Feinde. Hinterher bereut er es und muss dafür Strafen erleiden, indem er hart für andere, ihm Unterlegene schuftet. Das Problem: der Reue folgt keine Einsicht, sondern die Reue wird sofort in weiteren, blinden Aktionismus umgewandelt. Diese Abfolge hartes Arbeiten, unglaubliche, aber letztlich sinnlose Kraftakte, Wahnsinn, Jähzorn, Freveltat, Buße hält eigentlich sein ganzes Leben über an. In der Mythologie wird der regelmäßige Wahnsinn von Herakles als eine von Hera geschickte Strafe geschildert. Psychologisch gesehen höchst schlüssig – denn Herakles tritt das weibliche Prinzip Empathie, soziales Verhalten mit Füßen. Wer sich nicht offen und berechtigt wehren kann, muss dies auf indirekte, dunkle Weise tun: Die Göttinnen als Vertreterinnen des universalen Lebensprinzips von Geburt – Leben – Tod rächten sich daher in den Mythen an den Menschen, die sich an diesen Prinzipien vergingen, in deren Innerem in Form von seelischem Wahnsinn.
Selbst das Orakel von Delphi wendet sich von ihm ab. Als Herakles, wieder einmal in geistig-seelischer Umnachtung, herbeieilt, um endlich Antwort auf sein mühseliges Schicksal zu erhalten, weist ihn die Priesterin stumm von sich, wohl wissend, dass Besinnung und Einsicht für Herakles Fremdwörter sind und dieser daher hier völlig umsonst Rat sucht, wo die Botschaft ja treffenderweise lautete „Erkenne dich selbst“! Die Ratsuchenden waren immerhin aufgefordert, ominös klingende Orakelsprüche zu interpretieren, bevor sie wichtige Entscheidungen trafen. Das ging natürlich immer schief und war, betrachtet aus zeitlich-humorvoller Distanz, eine andauernde Aneinanderreihung von Trial und Error. Denn erst durch die Handlung, durch die Erfahrung verstehen wir etwas Wichtiges wirklich, meist im Nachhinein. Das ist Teil der Tragik des Lebens und die hinreichend lernfähigen Fragenden verstanden, nachdem sie mit den Folgen ihrer Handlung konfrontiert waren, die wahre, sprich verborgene Bedeutung der Weissagungen.
Herakles erbost das Schweigen der Priesterin dermaßen, dass er mega-marsmäßig reagiert: Er nimmt den heiligen Dreistuhl, auf dem die Priesterin sonst in Trance ihre Weissagung empfängt, droht mir der Zerstörung Delphis und ringt sogar den erzürnt herbeieilenden göttlichen Schutzherrn Apollo nieder! Erst sein göttlicher Vater Zeus trennt die beiden mit seinem Donnerblitz. Kurzum – Herakles ist und bleibt er selbst, d.h. eine unbelehrbare Kampfmaschine. Ich kann jedenfalls Hera und ihren Hass auf ihn gut verstehen, denn Herakles ist seelisch-geistig gesehen unberührbar, unbelehrbar, nicht wirklich liebes- und damit verwandlungsfähig. Letztlich komplett überflüssig! Ironischerweise heißt „Herakles“ „Heras Ruhm“! Ob das ein bewusst sarkastisch gewählter Name war? Gedacht als Wink mit dem Zaunpfahl für Herakles, die ihm unbewusste Seite zu integrieren?
Herakles bekam übrigens vom Schicksal in Gestalt von Hermes d i e große Chance seines Lebens, aus der er leider wieder nichts lernte. Nachdem das Orakel von Delphi ihn aufgrund seines frevlerischen HB-Männchen-Auftritts zu drei Jahren weiterer Sklavenarbeit verdonnert hatte, führte der Götterbote Hermes den geistig-seelisch kranken Herakles zu Omphale, einer Witwe und Königin, in deren Dienst Herakles Taten vollbrachte, die auch einem sozialen Zweck dienten. Und die kluge Omphale heilte ihn als ihren Geliebten vor allem dadurch, dass sie ihn in Frauenkleider steckte und spinnen ließ. Das Wunder der Heilung trat konsequent ein: Herakles lebte die feminine Seite und genas. Um dann jedoch, kaum hatte er sich von Omphale verabschiedet, wieder nach altem Muster draufloszuhauen!
Zurück zu Chiron: Herakles wurde von Chiron garantiert nicht erzogen. Auch wenn man das manchmal liest. Gegen so ein Bewusstsein – aggressives, grenzenloses, duales Draufloshauen – ist letztlich kein Erzieher und kein Kraut gewachsen, es sei denn, die Person selbst stirbt. Und tatsächlich: Erst im Jenseits söhnen sich Herakles und Hera aus; dieser schlägt dort seinem Vater Zeus den lösenden Deal vor: Prometheus soll von seiner Peinigung am Felsen erlöst, in die Unsterblichkeit eingehen und der von Herakles unheilbar verletzte Chiron endlich sterben können. Mit bis heute schwerwiegenden Folgen: Das tricksende, technische Bewusstsein eines unerlösten, artifiziellen Uranus in Form von Prometheus wird den Menschen zuteil, die überdies teilweise bis heute an die herakleische Gewalt als Lösung aller Probleme glauben, während das empathisch-kreatürliche Bewusstsein, gepaart mit wahrer Weisheit, mit Chirons Freitod stirbt! Er kriegt zwar dafür ein Sternbild am Himmel, aber davon hat er nichts und die Chironiker im Sinne hochsensitiver, empathischer Menschen als bisher machtlose und leidende Minderheit auch nichts. Das ist eine gekonnte „Verarschung“ von Potentaten wie Zeus bis heute: Wir lassen Unschuldige draufgehen, geben ihnen aber dafür posthum ein Sternbild, Tempelchen, Marmorbüste, Zeilen in der Presse oder in der Wikipedia etc. Ich bin hier bewusst grob, um die zum Himmel schreiende Tatsache plastischer hervorzuheben.
5. Die lernäische Hydra
Die verhängnisvolle Unbesiegbarkeit von Herakles kulminiert in dem Pfeilgift, mit dem sich Chiron unheilbar infiziert, dem Gift aus dem Blut der lernäischen Hydra. Was war das für ein Mistviech und was bedeutet dieses Gift?
In der griechischen Mythologie gibt es einige Ungeheuer, die teils degeneriert männlichen, teils degeneriert weiblichen Charakter haben. Psychologisch gesehen sind es aus Hass und Willen zur Vernichtung gezeugte Wesen, die nicht begegnungs- wandel- und entwicklungsfähig/-willens sind, die gleichsam in ihrem Hass und Saft dauerhaft schmoren, um andere seelisch und/oder körperlich zu töten. Eines dieser Wesen war die lernäische Hydra, ein Monster mit vielen schlangenartigen Köpfen, das in einem Sumpfgelände wohnte, um das sämtliche Menschen begreiflicherweise einen großen Bogen machten. Herakles war beauftragt, dieses Monster, das unter dem Schutz der frustrierten – weil entmachteten - Hera stand, zu töten. Hera schickte zu dem Kampf sogar noch eine Verstärkung in Form einer Riesenkrabbe. Wir sehen, Hera steht astrologisch für das Krebs- (Krabbe) und Skorpionprinzip (Schlangenköpfe der Hydra), dem emotionalen Elefantengedächtnis des Tierkreises.
Mit Hilfe eines Verwandten (ebenfalls Krebsprinzip) gelang es Herakles tatsächlich, die Hydra samt dem Monsterkrebs zu töten und ihren unsterblichen Kopf unter einem Fels (Saturn) zu begraben. Seine Pfeile tauchte er ins Blut, die daraufhin das tödliche Gift enthielten. Das „Ergebnis“ des Kampfes spricht für sich! Das Problem ist als solches bis heute nicht wirklich gelöst, denn der Kopf der Hydra, d.h. die nicht wirklich angeschauten und verwandelten Kränkungen, ist unsterblich.
Erstmals zum Einsatz kamen die Pfeile, als Herakles zu Gast bei dem Kentaur Pholos war. Herakles, wie viele Männer vom Alkohol abhängig, um mal etwas Ruhe in sein adrenalinaufgeheiztes, sinnloses Leben zu bringen, verlangte, dass der Kentaur Pholos für ihn einen Weinkrug öffnete. Was jener zunächst ablehnte. Denn besagtes Gefäß zu öffnen, war den Kentauren wegen ihrer Unfähigkeit sich zu kontrollieren nicht gestattet. Herakles – wir kennen ihn ja jetzt schon gut genug - provozierte Pholos, woraufhin dieser den Krug öffnete. Es kam, wie es kommen musste. Durch den Geruch angelockt, eilten die primitiven Kentauren heran und besoffen sich so, dass sie im Rausch der Aggression Herakles töten wollten. Dieser war gezwungen, seine Pfeile einzusetzen, um nicht selbst getötet zu werden. Die Kentauren, die nicht getötet wurden, flohen teilweise verletzt in die Höhle von Chiron, der sich selbst an diesem Gift unheilbar verletzte. Eine gute Demonstration dafür, dass unbedachte Hilfsbereitschaft gefährlich sein kann, weil angemessene Grenzen aufgehoben werden (Saturn-Uranus!) und angeblich unbesiegbare Waffen für die Umwelt katastrophal und selbst für den Waffenbesitzer ein Eigentor sind. Denn nicht nur Chiron, wenn auch gezwungenermaßen freiwillig, sondern auch Herakles selbst stirbt am Ende seines Lebens unfreiwillig an diesem Gift, wird jedoch im Gegensatz zu Chiron dank seines Vaters Zeus in den Olymp versetzt. Ein stimmiges Bild dafür, dass seine maßlos-aggressiven Kampfeinsätze letztlich als vorbildhaft gewürdigt werden.
Herakles begegnet letztlich in dem Zusammenprall mit den Kentauren dem gesteigert primitiven, ungehobelt maskulinen Aspekt seiner selbst. Chiron wiederum, dieses empathische, mit vielen Spiegelneuronen versehene Bewusstsein, stirbt letztlich, gibt sich selbst auf, wenn das Gegenüber (primitiv-unreflektierte, egoistische Menschen) entweder völlig enthemmt, primitiv und nicht streng abgesondert (Kentauren im Rausch), oder einseitig dual-aggressiv-gepanzert ist (Herakles), sprich nicht willens oder fähig, wirkliche, ehrliche Selbstverantwortung zu übernehmen, auch Verletzlichkeit zu spüren und zu zeigen und damit sich und die Umwelt zu entwickeln. Das Gift, das von diesen gepanzerten Egomanen ausgeht, ist für die chirongeprägten empfindsamen Seelen und Geister bis heute unerträglich. Und die traurige Wahrheit lautet, dass, wie Liz Greene in ihrem Aufsatz „Verletzungen und der Wille zum Leben“ auf astro.com feststellt, gerade auch die bösen Egomanen zufrieden und wohlgenährt in ihren Betten sterben, während die Empfindsamen den Lebenskampf in Form von Armut, körperlicher und oder seelischer Krankheit früher oder später aufgeben und im extremen Fall durch Selbstmord umkommen oder in der Psychiatrie landen. Das Leben ist eben oft kein Märchen, in dem die Bösen bestraft und die Guten belohnt werden.
Welche wertvollen Botschaften können wir diesen Mythen bis heute entnehmen in Bezug auf eine nachhaltige Entschärfung der lernäischen Hydra? Anstatt dass sich Männer und Frauen im sogenannten Geschlechterkampf an weiterer Entwicklung hindern, sollten wir alle daran denken, dass Männer wie Frauen gegengeschlechtliche Anteile in ihrer Psyche haben und in unserer angeblich hoch entwickelten Zeit es darum geht, beide Prinzipien als gleich wichtig und wertvoll in sich selbst zu entwickeln. Auch Frauen brauchen einen Zugang zu gesunder Aggression, zur inneren Fähigkeit gepaart mit äußerem Recht, sich wehren und abgrenzen zu können. Genauso wie Männer – erfreulicherweise immer mehr – die Wichtigkeit selbst entwickelter Empathie und Beziehungsfähigkeit an sich entdecken. Diesen Erfordernissen muss auch in unserer Lebenswelt Rechnung getragen werden: in der Zähmung des globalen Raubtierkapitalismus, in Form eines gerechten Rentenausgleichs bei der häuslichen Kindererziehung, gleiche Bezahlung für gleiche Jobs, gerechte Entlohnung sozialer Berufe, humane und familienfreundliche Gestaltung der Arbeitswelt. Und das weltweit, wollen wir nicht den Kopf der Hydra weiterhin terroristischen Splittergruppen oder anderen „Wahnsinnigen“ überlassen, die psychologisch gesehen nichts anderes sind als unbewusste, unreflektierte, ungebildete und daher umso aggressivere Gefäße verdrängter, nicht ehrlich angeschauter und transformierter Energien.
Denn Hera gehörte einst zu den im vorderen Orient machtvollen Göttinnen wie Astarte, Ishtar, Isis, die ihre Liebhaber selbstbewusst aussuchten, indem sie ihnen – im Unterschied zur späteren biblischen Eva! - selbstbewusst einen Apfel überreichten als symbolischen Ausdruck dafür, dass sie diesen Männern ihre Gunst gewährten. Der ausgewählte Mann war immer auch der Sohngeliebte, mytho-logisch gesehen. Der im Herbst starb und im Frühling wiederauferstand, auch in Form der zahlreichen Pflanzen und neugeborenen Tiere. Das wurde auch durchaus konkret so vollzogen. Gab es Missernten, Hungersnöte, Katastrophen, hatte sich der König als Stellvertreter einer Gemeinschaft freiwillig zu opfern, damit das Leben der Gemeinschaft in Form dieses Opfers wieder kosmischen Beistand göttlicher Mächte fand.
Abgebildet wurde diese Große Mutter oft in ihrer dreifachen Gestalt als junges Mädchen, reife Frau und weise Alte, die – wie auch die Natur - gleichermaßen Zugang hatte zu nährenden wie auch zerstörerischen Energien.
Diese Mythologie wurde ab einer gewissen Zeit abgelöst durch die Herrschaft der männlichen Götter, die sich die bis dato autonomen Göttinnen gewaltsam unterwarfen, auch in Form von Heirat. Es etablierte sich die bis heute existierende monogame Ehe, wobei den Männern im Gegensatz zu den Frauen durchaus Seitensprünge gestattet waren. Aus der einst machtvollen Hera wurde so die frustrierte, oft betrogene Ehefrau, die eifersüchtig ihren Göttergatten Zeus verfolgte, permanent auf der Lauer, ihn an einer neuen Liebschaft zu hindern. Diese gewaltige Frustration muss natürlich irgendwo hin – in diesem Fall treffenderweise in ein Wesen wie die lernäische Hydra, das übrigens für den Kampf der entmachteten Göttinnen gegen die brutalen Patriarchen ausdrücklich gezeugt und eingesetzt wurde. Hydros heißt ja „Wasser“; es handelt sich also um ein Gefühlswesen, dessen Blut alle Kränkungen der einst selbstbestimmten Göttinnen birgt und daher „vergiftet“ ist.
Bezieht man diesen wichtigen Hintergrund in den Mythos von Chiron ein, entsteht folgendes Bild: Chiron bekommt völlig ungerechterweise das hochgiftige Konzentrat dessen ab, was Zeus und Konsorten den ehemals selbstbewussten und selbstbestimmten Göttinnen angetan hatte: brutale Entmachtung, Einverleibung und Reduzierung auf die Funktion eines männlichen Attributs. Die freien, selbstbestimmten Göttinnen reduzierten sich fortan auf jungfräuliche wie Artemis, auf zwangsweise verheiratete wie Hera oder wie die verführerische Aphrodite, die jedoch als Schaumgeborene (!) eine Männerphantasie ist und sich auch so benimmt, im Sinne von konkurrenzorientiert, egoistisch, vorrangig die geschlechtliche Liebe propagierend. Aphrodite ist als Edelnutte der alten Griechen zu bezeichnen. Intelligenz, ethische Gesinnung sind nicht gerade ihr Markenzeichen, umso mehr dafür geballte Attraktivität, mit der sie versucht, Sterbliche und Unsterbliche rumzukriegen und in ihrem Sinne zu manipulieren. Sie ist keine im alten Sinne mächtige, zentrierte, selbstbestimmte Herrin der Ober- und Unterwelt mehr, so wie es noch die sumerische Inanna war, die einst erfolgreich vom Himmel in die Unterwelt hinabstieg, längst vor Christus dort drei Tage blieb, sich im Reich ihre dunklen Schwester Ereshkigal häutete und erneuerte, um dann jauchzend wieder in den Himmel zu fliegen und selbstbewusst zu singen:
„Der Himmel ist mein, die Erde ist mein. Ich, eine Kriegerin bin ich. Die Götter sind Spatzen, ich bin ein Falke. Die Götter lungern träge herum – ich aber bin eine herrliche wilde Kuh!“
Die alten Göttinnen erfreuten sich noch einer ungebrochenen Widder-Waage-Achse, waren Göttinnen der Liebe und des Kriegs (!) und nicht dazu verdammt, pflegeleichte Dekoration zu sein. (18)
Vielleicht hatten die Männer damals ihre Rolle als jederzeit austauschbare, untergeordnete und eventuell zu opfernde Liebhaber satt und rotteten sich zusammen, um die seelische und sexuelle Freiheit der Frauen zu brechen. Eine weitere, archäologisch gestützte Sicht des Umbruchs verweist auf das gewaltsame Eindringen von Reiterhorden aus der zentralasiatischen Steppe - die ähnlich wie später die Mongolen der hochentwickelten islamischen Zivilisation - den von der Großen Göttin dominierten Herrschaftsinseln rund um das Mittelmeer den Garaus machten.
Ab der patriarchal organisierten Götterwelt wurden Frauen oft gegen ihre Zustimmung verschachert, wie Persephone an Zeus' Bruder Hades. Die bis dahin innige, selbstverständliche Verbindung zwischen Mutter und Tochter, wie sie in den Göttinnen Demeter-Persephone aufscheint, war damit zumindest deutlich geschwächt und damit das genuine Bewusstsein von Frauen, einen Selbstwert auch ohne Begehren oder Versorgen von Seiten der Männer zu haben. Meiner Meinung nach wirkt dieser Umbruch vor vielen tausend Jahren bis heute nach. Viele Mütter schauen immer noch mit mehr Liebe, Zärtlichkeit und Stolz auf ihre Söhne als auf ihre Töchter. Und ich glaube nicht, dass das nur wegen der gegengeschlechtlichen, erotischen Komponente der Fall ist. Es ist ein Ausdruck dafür, dass gerade Frauen ihrem eigenen Geschlecht gegenüber immer noch zu wenig positive Energie verspüren, weil die Vergangenheit in Form unglücklicher, schwacher, da nicht selbstbestimmter Frauen über unsere Großmütter weiterhin nachwirkt, wenn wir uns dessen nicht wirklich bewusst werden und diese Einstellung in uns und die Zustände in unserer Gesellschaft ändern.
Zurück zu Chiron: Aufgrund der kompletten Unreflektiertheit und Unbedachtheit von Herakles trifft ihn dieses tödliche Gift, diese geballte Konzentration von weiblichem Schmerz, die nichts anderes ist als das Bewusstsein, die einstige Freiheit und Lebenslust unwiderruflich verloren zu haben. Und was alles noch schlimmer macht: Chiron ist unsterblich, d.h. er kann nicht einfach sterben, sondern ist völlig sinnlos und ungerecht zu einem unendlichen Leiden verdammt!
Hier widerspreche ich entschieden der Interpretation von Herbert Jardner, der in Chirons Verwundung einen notwendigen Schritt sieht zu dessen Unterweltsfahrt/Katabasis im Sinne einer schamanischen oder religiösen Einweihung und Wiederauferstehung. Leiden im Sinne einer schamanischen Unterweltsfahrt macht nur Sinn, wenn danach eine deutliche Besserung für den Kranken oder für eine Gemeinschaft eintritt. Schamanen leben abgesondert, isoliert, sind sozusagen für ihre Gemeinschaft der kontrollierte Müllschlucker und –transformator. Befördern und verwandeln das Krankmachende, Verdrängte auf seelischer Ebene, auch wenn sie dabei materielle Träger benutzen. Um diese Fähigkeiten zu haben, müssen sie diese in einer harten Ausbildung in Form von seelischem Tod und Wiedergeburt erwerben und sich dabei zusätzliche seelische Kräfte durch die Verbindung mit Krafttieren aneignen.
Chirons Tod zeugt jedoch von einem tiefgehenden, sinnlosen Verlust. Er kann den Frauen ihre Freiheit nicht zurückgeben und es gibt keine Gemeinschaft, für die er diesen Tod stirbt und die davon profitiert. Die beim gesunden Chiron wenigstens teilweise noch vorhandene, kreatürliche Ganzheit des Lebens ist jetzt unwiderruflich dahin und damit die Existenzform eines männlichen, empathischen Bewusstseins, das sich innerhalb eines Großen Ganzen bewährt und angemessen unterordnet. Es wird und bleibt dunkel über lange Zeit. Was auch kein Wunder ist, denn wenn ich 50 % der Menschheit (den Frauen) das Recht auf ein angemessen freies, selbstbestimmtes Leben, was gesunde Instinkte, eine freie Sexualität und einen gesunden Selbstwert beinhaltet, nehme und brutale Aggression, unterdrückende Herrschaft in Form von Herakles und Zeus verherrliche, im Zuge dessen empathiefähige Männer auch opfere, an den Rand dränge, dann geht etwas Wertvolles, Essenzielles grundsätzlich verloren: sowohl die freie Instinktnatur als auch der Zugang zum unsichtbaren Hintergrund, zur alles verbindenden Schönheit der Schöpfung, personifiziert in Chiron und seinem Zugang zur Wasserwelt über seine Mutter, die Nymphe Philyra. Kein Wunder, dass er den Tod freiwillig wählt, denn so ist das Leben nicht mehr lebenswert. Chironiker in Form von naturverbundenen Männern gab und gibt es seither immer nur vereinzelt! Daher auch die Zuordnung von Chiron zur Existenzform des Einzelgängers, Pioniers, Außenseiters.
An dieser Stelle sei nochmals nachdrücklich auf Chirons Gabe der Weissagung und genialer Musikalität verwiesen, sein selbstverständlicher, weil schuldloser Zugang zum unsichtbaren Hintergrund in Form des astrologischen 12. Hauses/Fischepotenzials. Ähnlich wie Orpheus weiß Chiron um den göttlichen Ursprung der Schöpfung, fühlt ihn auch zutiefst und kündet von ihm ähnlich einem Barden. Und Heutigen dämmert dieser Zusammenhang, wenn wir wirklich zutiefst ergriffen einem Musikstück, einer gleichsam göttlichen Stimme oder einem Instrument lauschen oder von einem Naturschauspiel ergriffen sind, was in unserer heutigen lärmerfüllten, reizüberfluteten Zeit, deren Künstler mehr technischer Perfektion oder Lärm huldigen, fast unmöglich geworden ist.
Die Schöpferin des astrologischen Chironsymbols wies ausdrücklich darauf hin, dass das untere Oval eine Note darstellt. (19) Wobei im Unterschied zu einer musikalischen Note die senkrechte Linie nicht am Rand, sondern aus der Mitte der Schleife emporgeht. Und von dieser senkrechten Linie gehen dann die zwei kurzen, ein k bildenden Striche ab, das auf den Entdecker Chirons, Charles Kowal, verweisen soll. Graphische Symbole können bisweilen eine faszinierende Mehrdeutigkeit entfalten. Meine Phantasie inzwischen zum Chironsymbol: Was wäre, wenn diese zwei einen Winkel bildenden Striche zumindest auch einen Pfeil darstellen, den Pfeil von Herakles, der die bis dato vorhandene Einheit und den offenen Zugang zum Himmel unwiederbringlich zerstört hat? Eine Einheit, die in dem abgeschlossenen Oval abgebildet ist, von dem aus einst eine Verbindung zum offenen Himmel ausging, in Anlehnung an die vom Weiblichen (Gaia) geborenen himmlischen Raum (Uranus)? Man kann sich das untere Oval auch als eingerollte Schlangenkraft vorstellen und die Senkrechte als erwachte Kundalini-Energie.
Diesen für Chiron ungehinderten Zugang zum Himmel, weshalb er auch unsterblich war, drückt sich bis heute in Dichtung aus. Denken wir nur an Eichendorffs Worte „Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort. Und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort.“ Meine These: Seitdem Chiron gestorben ist, singt die Welt nicht mehr richtig. Findet nicht mehr oder nur noch höchst selten das statt, was Edward Whitmont in seinem 1982 erschienenen Buch „Die Rückkehr der Göttin“ eindrucksvoll schildert. Und das chironaffinen Lesern nachdrücklich zur Lektüre ans Herz gelegt sei!
Ein anderes „Lied“ wurde seit Chirons Tod überwiegend gespielt. Zu Gunsten der drei Individuen und ihrer mehr oder weniger bewussten Nachfolger, die von Chirons Opfergang nachhaltig profitierten: Zeus, Prometheus und Herakles. Die gewissenlosen Obermachos.
Herakles konnte durch den vorgeschlagenen Deal „Prometheus gegen Chiron“ sein Gewissen beruhigen. Zumindest musste ab jetzt Chiron nicht mehr jaulend vor Schmerz durch die Welt laufen. Bezeichnenderweise lässt Zeus auch deshalb Prometheus frei und tauscht ihn gegen den wehrlosen, sterbewilligen Chiron aus, weil Prometheus ihm verrät, wie Zeus als Boss es schafft, nicht wie einst sein Vater Saturn durch einen gefährlichen Nachfolger überwunden zu werden, sich also um das angelegte Schicksal herumdrücken kann! Auch hier wieder ein gutes Beispiel für verantwortungslose Trickserei herrschaftsgeiler Menschen. Ich wähle bewusst das Wort „Mensch“, denn auch Frauen können grausam und verantwortungslos handeln. Unter dem Gesichtspunkt „Hauptsache billig-davonkommen und wieder dabei sein bzw. dabei bleiben“ versöhnen sich sogar ehemalige Feinde wie Zeus und Prometheus. Mit Folgen, die bis heute sicht- und erlebbar sind. Die Verdränger haben die Top-Positionen innerhalb unserer Familien und unserer Gesellschaft aufgrund ihrer Abspaltung ihrer Instinkte und Gefühle bzw. der pervertierten Umwandlung von gesundem Instinkt und Mitgefühl in egobetonte Macht, abgefedert von Luxus und materiellem Reichtum. Die Verdränger halten zusammen, verkrachen sich und verraten sich zwar zwischenzeitlich, versöhnen sich aber spätestens dann sehr schnell und unreflektiert, wenn es um gemeinsame Vorteile und die Ausblendung des eigenen Schattens geht. Die Nicht-Verdränger haben meist die schlechten Karten innerhalb unserer Familien und Gesellschaft, sind die Müllschlucker, die grauen Mäuse, die Opfer, übernehmen stellvertretend abgespaltene Gefühle, Schwächen. Im besten Fall sind sie Heilpraktiker und Künstler. Die, wenn sie gut leben wollen und kein eigenes Vermögen haben, auch wiederum den Gesetzen und Ungerechtigkeiten des überwiegend grausamen Marktes unterworfen sind.
Der Austausch zwischen Chiron und Prometheus demonstriert zusätzlich eindrücklich die Problematik des Stellvertreter- und Machtprinzips, des „Äpfel gegen Birnen“- Grundsatzes. Das Prinzip der Schuldabgabe funktioniert bis zu einem gewissen Grad leider zu gut und auch wieder nicht. Indem die eigentlich „Schuldigen“ ihre Schuld (=ihren nicht zur Kenntnis genommenen seelischen Anteil) ignorant-selbstgerecht auf andere werfen, diese zu Sündenböcken und teilweise zu extremen Außenseitern machen, leben die „verlogen Erfolgreichen“ selbst letztlich auf seelische Kosten der Erniedrigten und erhalten dadurch Lebenskraft. Zumindest vorübergehend. Letztlich müssen sie sich jedoch auch mit ihrer Sterblichkeit und Vergänglichkeit konfrontieren. Inwieweit z.B. durch Reinkarnation seelische Schuld irgendwann ehrlich ausgeglichen wird, bleibt bis auf weiteres Spekulation. Und nützt auch nicht so viel, denn wir wissen ja nicht und sollen es vielleicht auch nicht wissen, was wir in den vergangenen Leben waren und wie wir uns da benommen haben. Worum wir jedoch wissen, weil er zweifellos bis jetzt existiert, ist der Tod, der Schatten, Pluto, der aber astrologisch gesehen von Thomas Ring treffend auch als das gestaltwandelnde Prinzip definiert wurde. Es ist vielleicht letztlich eine Frage der Auffassung und eigenen tiefen, seelischen Erfahrung, ob ich diesen Bereich als harte, unumstößliche Wand, Grenze oder als eine mit Bewusstsein zu füllende und damit veränderliche Energie begreife. (20)
Diese „Unterwelt“ der Antike, im heutigen Sinne das kollektive Unbewusste, scheint uns bis jetzt dunkel-unbewusst im Sinne von „gleichgültig“. Jedes Opfer ist aus dieser Perspektive gleich gültig. Im Sinne eines erforderlichen Energieaustauschs, eines energetischen Gleichgewichts verlangt diese Unterwelt nach einer Handlung, einer Reaktion, wenn gegen Lebensprinzipien gehandelt wird, wenn gar aus Feigheit Schuld delegiert und ein Unschuldiger dem kollektiven Unbewussten in den Rachen geworfen wird. Und wir nehmen es bis jetzt meistens einfach hin, dass aufgrund der mangelnden Individualität, der mangelnden Ethik die dunkle, anonyme Energie Plutos akzeptiert, dass einer mehr oder weniger gerecht für einen anderen oder viele oder gar viele für einen stellvertretend haften. Die alten Griechen opferten diesem Gott mit abgewendetem Gesicht. Man muss sich hier einfach mal fragen: Ist Pluto letztlich nicht die selbst geschaffene Hölle, Unterwelt, die wir von unseren Vorfahren und deren „schlechten“ unverantworteten Taten unhinterfragt übernommen haben? Und dabei noch glauben, dass diese Hölle nur die anderen betrifft im Sinne Sartres „L'enfer, c'est les autres“? Von der wir uns einfach weiterhin abwenden, weil wir zu bequem sind, uns wirklich damit auseinanderzusetzen?
Machen wir uns auch folgendes klar: Integres Vorgehen braucht keine ungerechten Opfer! Integre Persönlichkeiten stehen für sich selbst ein und machen etwas gut, wenn sie erkennen, sie haben nicht richtig gehandelt, nicht nur in ihrem eigenen Sinne, sondern auch im Sinne einer tadellosen Ordnung im Sinne Saturns. Denn die Mythologie Saturns enthält noch eine andere Variante, laut der er über eine Art Paradies auf Erden herrschte, auf einer Insel der Seligen im westlichen Ozean.
Chiron ist sogar in der langen Phase seiner schrecklichen Verwundung nicht bösartig geworden, hat keinen aus Wut oder Verzweiflung umgebracht. Er hat sich resigniert den Umständen ergeben und sich mangels guter Alternative selbst ausgelöscht. Und uns bis heute eine mahnende, schwärende Wunde hinterlassen. Das ist für mich die wahre Bedeutung der angeblich „unheilbaren Wunde“ Chirons – der immense seelische Schmerz, den er uns als dauerhafte Erinnerung hinterlassen hat, nachdem das kreatürlich-unschuldige Bewusstsein durch schuldhafte, brutale Aggression der Spezies Mensch in der Gestalt von Herakles ausgelöscht wurde.
Da nützen auch keine angeblichen Heilsbringer wie Christus, der angeblich stellvertretend für uns am Kreuz starb, oder Buddha, mit dessen Techniken wir ins Nirwana kommen können, wenn wir diesen Planeten und dieses Leben für eine zu überwindende Illusion halten. Gerade das halte ich für eine gefährliche Illusion! Denn es blendet bewusst die Tatsache aus, dass nicht nur wir, sondern insbesondere unsere Erde seit langer Zeit sich im höchst beklagenswerten Zustand befinden. Und wir als Hüter dieses einzigartigen kosmischen Gartens dafür verantwortlich sind und nicht mehr lange Zeit haben, diesen Zustand, sprich uns selbst, nachhaltig zu verbessern.
Die christliche Religion verschärfte noch alles, indem sie nicht nur weiterhin die Frauen den Männern unterstellte, sondern darüber hinaus auch noch Sexualität als solche verteufelte. Dass katholische Priester bis heute nicht heiraten und Frauen erst gar keine Priesterinnen werden dürfen, spricht nach wie vor für sich. Das Christentum schaffte es auch nicht, das Herakles-Problem zu lösen. Es schuf zwar Inseln des Friedens in Form der Klöster, der Preis war jedoch die körperliche, instinktive Kastration der eingetretenen Frauen und Männer bzw. eine verlogene Einstellung körperlichen Bedürfnissen gegenüber. Ansonsten versuchten die Kirchenfürsten sehr erfolgreich, die aggressiven Raufbolde für ihre Belange einzuspannen, was nicht zuletzt im Irrsinn der Kreuzzüge und in der brutalen Missionierung Andersgläubiger bis hin zu weit entfernten Kontinenten mündete. Die christlichen Religionen waren und sind nicht einmal fähig, sich ernsthaft für Natur- und Umweltschutz zu engagieren.
Warum also nicht den Ehrgeiz und die Fähigkeit entwickeln, den Himmel hier auf Erden wieder zu errichten, in uns und außerhalb unserer Selbst? Anstatt wie bisher eine mehr oder weniger motivierte Todessehnsucht mit Pseudoerlösungen (Religionen) oder Todesphobien (Kapitalismus, Nihilismus) zu zementieren? Mit den jeweils verbundenen absurden, bislang unbewiesenen Annahmen:
Annahme 1: Das Jenseits ist die volle Kompensation zum Diesseits. In diesem proijzierten Raum hätte ich wenigstens als Mann die volle Lust (jeweils 26 Jungfrauen für einen Gotteskrieger Allahs) oder zumindest keine Probleme mehr (Buddhismus), wird mir endlich die Gerechtigkeit zuteil, die ich im Diesseits wegen des Teufels und einer ungehorsamen Eva entbehren musste (Christentum).
Annahme 2: Das Diesseits als würdelosen Gegenstand eines Schnäppchenkampfes zu degradieren im Sinne eines „Nimm dir, was du kriegen kannst.“ Ich giere also im Sinne des Kapitalismus nach möglichst viel Geld, lasse mich nach dem Tod teuer einfrieren in der Hoffnung, irgendeine Draculamedizin mache mich später wieder lebendig, um dann als aseptisches Wesen auf irgendeinen Planeten überzusiedeln, nachdem die Erde als eine durch Menschen verursachte Kloake längst den Bach runter gegangen ist.
Für mich stellen das keine wirklichen Alternativen dar. Sieht man in der Botschaft Chirons hingegen die gelungene Synthese zwischen Geist (Uranus) und Materie (Saturn), die auch die Vegetation und die animalischen Instinkte sowie die Tiere umfasst und damit das gesamte Leben, dann stellt sich auf der Handlungsebene folgende Frage:
Wie setzen sich möglichst schnell und nachhaltig die Nicht-Verdränger durch, ohne sich dual-verhängnisvollen Vorgehens schuldig zu machen und die Misere einer klassisch verlaufenden Revolution im negativen Sinne zu wiederholen?
Mit anderen Worten: Wie kann das unendliche Leid den jeweiligen Verursachern - von der obersten Ebene der Konzernchefs, Politiker bis hin zur untersten gesellschaftlichen Ebene - direkt so gespiegelt werden, dass diese sich selbst und gleichzeitig auch die Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur möglichst schnell und in erfreulicher Frequenz, zunächst innerhalb kleiner Inseln, dann in Form von durchgehenden großen Flächen, wandeln? Denn einzelne Aussteiger, die sich abschotten von der bösen Welt, reichen nicht aus, um dieses Dilemma zu lösen. Genauso wenig wie die mit mehr oder weniger Geld angereicherte krampfhafte Missionierung letztlich dauerhaft erfreuliche Resultate erzeugen.
Chiron ist jetzt diese Möglichkeit der Wiedergutmachung, der Restitutio ad Integrum, wenn wir seiner Botschaft folgen und uns für sie in Bezug auf uns selbst und unsere Umwelt radikal (Uranus) und diszipliniert einsetzen (Saturn): die Wiedergewinnung einer intakten Natur (Erde) und unserer wahren Natur, in Einklang mit unseren Instinkten und im Sinne unserer unverwechselbaren Individualität (Uranus), die unabhängig von Fremderwartungen von Seiten unserer Eltern oder unserer Gesellschaft nicht nur individuations- sondern auch im guten Sinn gemeinschaftsfähig ist. In der Verwirklichung (Saturn) der Botschaft Chirons gelangen wir zurück zur ursprünglichen, unproblematischen Einheit zwischen Unten und Oben, zwischen Erde und Himmel, zwischen Natur und Geist inner- und außerhalb von uns! Das ist meine These. Verstärkung findet sie in der Beobachtung und Erfahrung Melanie Reinharts, dass Chiron wie auch andere Kentauren Zugang haben zu plutonischen, festgefahrenen Verdrängungen, zu seelischen Verkrustungen, die nicht nur individuellen, sondern auch kollektiven Charakter haben. Der Kontakt zwischen Kentauren und Pluto lassen jene Verdrängungen zugänglich, emotional erlebbar, auflösbar und damit seelisch wirklich wandel- und heilbar machen.
Vorausgesetzt jeder Einzelne setzt sich in Bewegung, freiwillig, entschlossen, diese Herausforderung in sich selbst, seiner Familie und Gesellschaft gegenüber, anzugehen im Sinne „Der Wille ist des Menschen Himmelreich“ (Mars-Neptun). Denn das Stellvertreterprinzip im negativen Sinn (Schuldprojektion) und das Trittbrettfahrerprinzip haben ja dann ausgedient! Das Stellvertreterprinzip kann jedoch im Sinne der Resonanz bei der Umwandlung der Welt in positiver Hinsicht genutzt werden, um aus der teilweise schmerzhaft-sinnlosen Isolation und Erniedrigung herauszufinden, Gleichgesinnte zu finden und dabei seine Selbstverantwortung zu wahren. Dabei können wirkliche Eliten heranwachsen und sich bilden, Menschen, die ihren echten Selbstwert entdecken und festigen wollen und nicht mehr manipulierbar sind. Sprich Demokratie (Uranus) auf solider Grundlage (Saturn); eine Gesellschaft, in der anstehende sinnvolle Neuerungen (Uranus) solide diskutiert (Saturn) und angemessen integriert (Neptun) werden. Eine Gesellschaft, in der es keine wie bisher sinnlose Spaltung in therapeutische Rückzugsinseln (Neptun) und „ganz normalem Wahnsinn“ (Mars als Ausdruck von extremem Egoismus und negativer Konkurrenz) mehr gibt, eine Gesellschaft, der klar ist, dass ein sinnhaftes, individuell gestaltbares Leben, beruhend auf einer wachen, kritikfähigen, empathischen Gemeinschaft und gesunden Prinzipien innerhalb einer intakten Natur, das Wertvollste ist, was es gibt.
Inwieweit diese anstehende große Umwälzung strategisch im großen Stil vielleicht erfolgreich umzusetzen ist – darauf werde ich ggf. in einem weiteren Beitrag zu sprechen kommen.
Last not least: Der Blick nach oben
Als Steinbock gebe ich einer sorgfältig gelesenen und gedeuteten Mythologie den Vorzug vor einer abstrakten himmlischen Blaupause. Und vergessen wir eines nicht: Die Astronomie hinkt im Grunde der Mythologie hinterher. Ist es nicht ein Witz, dass die Mythen längst von Wesen sprechen, die nach und nach mühselig am Himmel wieder entdeckt werden, mit sündhaft teuren Geräten? Es ist, als wollte der Himmel uns Menschen sagen: „Okay, du brauchst wohl auch noch die himmlische Rückversicherung, dass du endlich an das glaubst, was längst an seelischer Erfahrung in Form von Mythen, Dichtung etc. in dir vorhanden ist. Dann guck halt ins Teleskop und finde das wieder, was im Grunde zu dir und deiner Seele gehört.“
Das Horoskop über die Entdeckung Chirons, abgebildet im Buch „Rätsel Chiron“ auf S.59 , ist ungeschickt dargestellt. Es scheint, als ob das Horoskop AC Löwe wäre, was ja aufgrund der Uhrzeit schon nicht sein kann. Denn die Sonne muss ja zu diesem Zeitpunkt im dritten Quadranten stehen.
Interessant ist: Der linke Punkt nach der Rhythmenlehre Döbereiners lief gerade über Chiron! Es war also vielleicht an der Zeit, sein Rätsel zu lösen. Das Horoskop ist ganz am Ende abgebildet.
Schaut man also vor diesem ausführlich geschilderten Hintergrund auf das Entdeckungshoroskop von Chiron, ist schon mal interessant, dass die Lebensachse Skorpion-Stier die AC-DC Achse ist und Chiron selbst sogar im Stier im 6. Haus steht, dem Haus der Lebensbedingungen. (21) Das Anliegen besteht also aus skorpionischem Inhalt, dem Tod oder der Aufforderung, Altlasten anzuschauen, zu wandeln, sich zu häuten, um dann ggf. in eine begegnungsfreudige, fruchtbare Gegenwart zu gelangen (Stier). Dass diese fruchtbar-freudvolle Gegenwart verwundet ist, kann durch Chiron im Stier angedeutet sein, der hier eindeutig Spannungsherrscher ist und als Einziger im seelischen Quadranten steht. Pluto als Herrscher vom Skorpion-Aszendenten steht im 11. Haus unmittelbar auf der Mondknotenachse Waage-Widder, die prinzipiell dazu auffordert, über die freiheitlich orientierte Begegnung (Waage in 11) beherzt ins seelisch ausdrucksstarke, eindeutige Handeln (Widder in 5) zu kommen, so dass der Mars in 9 einem seelisch-weiblichen Impuls (Krebs) folgt in Verbindung mit einer 9.Haus-Horizonterweiterung, die durchaus auch Züge einer friedlichen Missionierung annehmen kann. Der Mond als Herrscher von 9 in 2 zeigt an, dass es darum geht, der Philosophie im 9. Haus konkret Gestalt und Wert zu verleihen, so dass das Mondprinzip stark strukturiert sich im Hier und Jetzt (Steinbock) verankern kann. Gleichzeitig ist das zweite Haus offen und wandlungsbereit gegenüber Schattenthemen und Einsicht, denn der Mond untersteht der Häuserlogik nach dem Schützen und Jupiter ist wiederum im Krebs im achten Haus: Seelische Einsichten mit Häutungsoptionen anstatt Höllenfeuer, Verdammnis und Tod – sind das nicht echte Perspektiven?
Nehmen wir die Monknotenachse auch als Verbindung zwischen rezeptivem, lunarem und aktiv-solarem Prinzip, ist diese kosmische Ur-Polarität, dieses Gleichgewicht plutonisch „verseucht“ und blockiert. Dass das genuin weibliche Prinzip in seiner Würde und in seinem Wert zusätzlich geschwächt , wenn nicht gar „verteufelt“ ist, zeigt sich im Quadrat Plutos zum Steinbockmond im zweiten Haus.
Die so genannte Individuationsachse 4-10 ist Wassermann-Löwe, was nichts anderes heißt, als dass die eigene seelische Befreiung der Boden dafür ist, ein der Ganzheit gewidmetes Leben zu erlangen. Uranus als Herrscher von 4 ist im Skorpion im 12. Haus, dem Bereich der Ganzheit, Ungeteiltheit. Man kann ihn jetzt noch als einen in kollektiven Altlasten begrabenen Uranus interpretieren, schwer zugänglich, abgespalten im Himmel, in den Hintergrund, wie einst sein göttlicher, mythischer Urahn Uranus. Wobei wir hier bei den Endgraden Wassermann-Löwe noch eine sensible Grenze hin zu Fische-Jungfrau haben, die Zweitherrscher sind. Was für Chiron sehr passend ist: seelisch im großen Maßstab durchlässig zu werden (Neptun), um unmittelbar selbst idealistisch zum Einsatz zu kommen (Neptun in Schütze im 1. Haus) und um die Erde wieder in vernünftige, gute Bahnen zu bekommen (Jungfrau). Zumal Chiron auch im 6. Haus steht.
Nahe am MC steht der Schwellenhüter Saturn, Chirons Vater (!), in seiner Doppelrolle als tyrannischer Lebensverhinderer oder –ermöglicher in einer reifen, abgrenzungsstarken, selbstverantwortlichen Frequenz. Immens stark betont ist das 11. Waage-Haus, in dem auch die Sonne und Venus als H von 7 steht. Folgen wir den Herrscherketten, hat dieses Haus große Priorität. Die Umsetzung der Anlage (Sonne) geschieht also auf befreite (11.Haus), gleichberechtigte, faire Art der Waage, nach dem Motto „Die Wahrheit beginnt zu zweit“. Das klassische Wassermann-Haus fordert also dazu auf, mit Menschen ähnlicher, offener Wellenlänge sich zusammenzutun, keine Angst vor Konflikten zu haben (Widder in 5), um im ehrlichen Umgang sich selbst und anderen gegenüber dadurch eigenverantwortlich König seines eigenen individuellen Lebens zu werden. (Saturn im Löwen, 10. Haus). In diesem Sinne: good luck!
Es wäre sicher auch spannend, das Horoskop der Entdeckung Chirons im Kontext der Fixsterne zu analysieren. Hierin bin ich nicht bewandert und wäre gespannt auf diesbezügliche Resultate.
In der Zwischenzeit empfehle ich Chironikern, sich gut um sich selbst zu kümmern. Denn wenn sie es nicht machen, macht es niemand für sie! Und die Welt wird dadurch weiterhin hinfälliger, kränker. Ganz wichtig: Grenzen ziehen Leuten gegenüber, bei denen man merkt, sie senken dauerhaft die gute Laune, rauben einem die Energie, beschneiden die eigene Freiheit, wollen einen unter ihre nicht eingestandene Frustration zwingen.
Mit zwischenzeitlicher oder endgültiger Grenzziehung diesen Leuten gegenüber müssen Chironiker sich klar machen, welche Pflichten sie erledigen müssen, auch wenn sie es nicht gern machen. Aber kommen sie selbst ihrem Saturn nach, stellt sich automatisch dann auch der Uranus wieder ein in Form von guten Ideen, Lebensfreude und genügend Freiraum.
In diesem Sinne – frohes Gelingen!
Anmerkungen:
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Reinhardt Stiehle (Hg.), Rätsel Chiron, Was bedeutet er für die Astrologie?, Chiron Verlag 2009
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Beate und Petra Niehaus, Chiron jenseits aller Deutungsakrobatik, in Meridian 6/2000, S.18
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Beate und Petra Niehaus, ebda S.18
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Eric Frances, Eine Einführung zu Chiron, Meridian 6/2000
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Zane Stein, Chiron, Chiron Verlag 1985
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Beate und Petra Niehaus, Chiron jenseits aller Deutungsakrobatik, Meridian 6/2000 S.20
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ebda S.20
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Petra Niehaus, Astrologie, Mythologie und Chiron, S.23, in Astrokalender 2001, Simon und Leutner
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Melanie Reinhart, Chiron der rätselhafte Kentaur, in Rätsel Chiron (1), S.41
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ebda S.42
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Petra und Beate Niehaus, Unsterblich sterblich, in Astrokalender 2001, S.133
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Das Buch „Die Spirale des Lebens“ ist zur Zeit über keinen Verlag erhältlich, kann aber als pdf Manuskript direkt von mir zu einem Preis von 25 Euro erworben werden. Interessenten melden sich bitte bei mir per Mail: kahepperle@googlemail.com. Auf Anfrage schicke ich gerne eine Gratis-Textprobe.
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Ein informativer Link zur psychosomatischen Energetik ist http://www.naturheilmagazin.de/natuerlich-heilen/naturheilkundliche-methoden/psychosomatische-energetik.html
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Petra Niehaus, Das zentaurische Bewusstsein bei Ken Wilber, Sternenlichter 2001, S.155 ff
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Wilfried Schütz, Chiron, Schlüssel zur Bewusstheit in „Rätsel Chiron“, Chiron Verlag 2009
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Petra Niehaus, Mensch und Tier und Gott: Unsterblich sterblich – sterblich unsterblich, S. 212/213, in „Rätsel Chiron“, Chiron Verlag 2009
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Herbert Jardner, Das Antlitz Chirons in https://gruenesonnen.files.wordpress.com/2015/03/chiron.pdf
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Siehe dazu auch meinen Artikel „Die Faszination weiblicher Archetypen“, www.faden-der-ariadne.de und mein Buch „Die Spirale des Lebens“, dessen Schwerpunkt die Beschreibung und Selbsterfahrung kosmischer Archetypen im Spiegel der astrologischen sechs Hauptachsen im Horoskop bildet.
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Al H. Morrison, Gedanken zum Chironsymbol, in „Rätsel Chiron“, Chiron Verlag 2009
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Siehe dazu Deepak Chopra und Debbie Ford, The Shadow Effect: Wie Sie Ihr verborgenes Potenzial ans Licht bringen, J. Kamphausen Verlag; vor allem Chopras Aufsatz ist wirklich lesenswert.
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Als Zeitpunkt für die Entdeckung Chirons wird der 18.10.1977, 9.08, Pasadena in Kalifornien genannt. Das häufiger zitierte Horoskop ist der Zeitpunkt der öffentlichen Bekanntgabe des neuen Himmelkörpers vom 1.11.1977, 10.00. Ich habe hier jedoch den Entdeckungszeitpunkt gewählt.